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Chroniken von Centrum - All in One Ediiton
Bewertung:
(3.5)
Von: Jörg Deutesfeld
Alias: Debaser
Am: 16.04.2010
Autor:Jean-Pierre Andrevon (Autor) und Afif Khaled (Zeichner)
Übersetzer:Uwe Löhmann
Typ:Comic / Graphic Novel
Setting:Sciene-Fiction
VerlagEhapa Comic Collection
ISBN/ASIN:978-3-7704-3254-7
Inhalt:144 Seiten, Hardcover
Preis:39,95 EUR
Sprache:Deutsch

Inhalt:

Europa in nicht allzu ferner Zukunft: Eine Megalopolis mit mehr als einer Milliarde Menschen namens „Centrum“ beherrscht die Landschaft des Pariser Beckens. Von den 98 % der Einwohner leben rund 90 % in der ärmlichen Nekrozone, die sich zwischen den geschützten und besonders abgeschotteten Residenzvierteln der Reichen und Privilegierten erstreckt.

Die Metropole kämpft mit einem gewaltigen Problem: der Überbevölkerung. Da nicht genügend Platz und Lebensmittel für alle vorhanden sind, hat der Staat ein Lossystem entwickelt, wonach jährlich eine Millionen Menschen exekutiert werden. Die Auswahl trifft „Atropos“, der gewaltige Computer des Volksministeriums, der durch Zufall die Personen hierfür auswählt. Nur das Militär und Vertreter der Regierung bleiben von dem Auswahlverfahren verschont und so kann es jeden treffen – egal ob arm oder reich. Als Vollstrecker des Auswahlverfahrens dienen die vereidigten Kontrolleure des Volksministeriums, die von den Bewohnern von Centrum nur verächtlich „Frettchen“ genannt werden. Eines dieser „Frettchen“ ist der vereidigte Kontrolleur 129305749588, dessen richtigen Namen man erst später im Verlauf der Geschichte erfährt.

Der Leser lernt auf den ersten Seiten den harten und unbarmherzigen Alltag dieses „Frettchens“ kennen, der geleitet durch ein fest implantiertes Computersystem „Jules“ seine Opfer via GPS in dem riesigen Moloch sucht, um sie zu liquidieren. Das ist nicht immer einfach, da die Betroffenen in den seltensten Fällen von dem staatlich verordneten Sterben begeistert sind. Kontrolleur 129305749588 kommt seiner Aufgabe nahezu perfekt nach und man erlebt in ihm einen treuen und disziplinierten Vollstrecker, der seine Tätigkeit nicht in Frage stellt und dem es niemals in den Sinn käme, seine Waffen nach Dienstschluss zum Zwecke der Selbstverteidigung einzusetzen.

Doch unser Kontrolleur lernt in seinem Wohnblock die Prostituierte Joserine Praakislava kennen, in die er sich verliebt und seine selbstgewählte Einsamkeit bekommt spätestens nach der Rettung von Jos, die von Unbekannten bedroht wird, Brüche. Doch nicht nur das – ein alter Bekannter aus Armeezeiten meldet sich bei ihm, um ihm etwas sehr Wichtiges mitzuteilen. Steranko, so der Name des alten Bekannten, ist als „Frettchen“ ausgestiegen und sympathisiert mit den Truppen des Untergrundes. Er berichtet seinem alten Freund Juan, das Gesundheitsministerium habe wahrscheinlich die Medizinalkapseln „angezapft“, in denen sich die Bewohner von Centrum vierteljährlich untersuchen lassen müssen und töte aufgrund der Untersuchungsergebnisse „kranke“ Personen durch die „Frettchen“. Doch Steranko hat Pech – er steht auf der Liquidationsliste von Juan und so tötet dieser Steranko nach dessen Bericht.

Doch die Neugierde von Juan ist geweckt – sollte es wirklich möglich sein, die Bewohner von Centrum nach bestimmten Krankheitskriterien zu töten? Bei seinen heimlichen Nachforschungen trifft er auf Mirosliv Erwan, einen Mediziner, der Juan einiges über eine neue und gefährliche Krankheit namens „Prionisches-Blutvergiftungs-Syndrom“ (PBS) erzählen kann. Diese Krankheit, die einer Mischung aus Pest und Ebola nahe kommt, hat unzählige Menschen von Centrum bereits infiziert. Von staatlicher Seite möchte man allerdings keine Panik schüren und lässt die Betroffenen von „Frettchen“ ausschalten – insofern gibt es auch kein Losverfahren durch „Atropos“ mehr. Doch nicht nur diese Information lässt Juan den Glauben an den Staat verlieren – seine Freundin Jos steht ebenfalls auf seiner täglichen Liquidationsliste und diesmal bekommt er Skrupel, seinen Auftrag auszuführen ...

 

Schreibstil & Artwork:

Der im Laufe seines Lebens bereits mit etlichen Preisen ausgezeichnete französische SF-Schriftsteller Jean-Pierre Andrevon wurde am 19.09.1937 in Bourgoin-Jallieu, Isère geboren. Unter dem Pseudonym Alphonse Brutsche hat er mehrere Geschichten beim Verlag „Fleuve Noir“ veröffentlicht. Neben seiner Tätigkeit als Schriftsteller hat er aber auch einige Szenarios für bekannte Comiczeichner geschrieben, unter anderem für Georges Pichard und Caza. So zeichnete Caza gemeinsam mit René Laloux den Zeichentrickspielfilm „Gandahar" nach einem Roman von Andrevon. Weiterhin hat er als Herausgeber eine Reihe von Anthologien französischer SF veröffentlicht.

 

Andrevon ist bekannt für seine eher polemisch ausgerichtete Science-Fiction, die sich gerne linksgerichteter Überzeugungen annimmt. Dabei benutzt er das Element „Zukunft“ gerne als Plattform, um Kritik an den gegenwärtigen sozialen und ökologischen Belangen zu nehmen. Seine Karriere als Schriftsteller begann 1968, als er – so man seiner Aussage folgen möchte – die französischen SF-Schriftsteller „ihre Köpfe im unpolitischen Himmel versteckten“. Seine Geschichten gehören zur „l'anticipation à moyen terme“ und hierbei vorzugsweise zur „tradition catastrophiste“, wie er sie deutlich in seinen Büchern „Le Désert du monde“ (1977) und „Visiteurs d'apocalypse“ (1990) zum Ausdruck bringt, obwohl er sich aber auch mit Zeitreisen in „Le Temps cyclothymique“ (1974) und den Launen des sog. Inner Space in „Sous le regard des étoiles“ (1989) auseinandersetzt.

Die Beschäftigung mit den beiden letztgenannten Themen waren der Ausgangspunkt für die Geschichte „Cauchemars de sang“ (1986), einer seiner beiden Beiträge für die „Collection Gore“, erschienen beim Verlag „Fleuve Noir“. Bis zum heutigen Tag sind noch etliche Veröffentlichungen gefolgt, die sich in Frankreich zum Teil als Bestseller in den Buchlisten platziert haben.

 

Auch wenn sich Andrevon mittlerweile auf eine stattliche Anzahl von Veröffentlichungen zurückschauen kann, von denen bedauerlicherweise nicht sonderlich viele in Deutschland erschienen sind, so ist es doch stets eine ganz besondere visionäre Qualität, die seine Geschichten ausmachen.

 

Schnell erinnert den Leser die Szenerie von „Centrum“ an den Film „Blade Runner“: Ein gigantischer, schmutziger und übervölkerter Stadtmoloch, der von Dauerregen durchtränkt ist und in dem ein einsamer Mann seinem Job nachgeht (auch wenn es hier nicht um die Exekution von Replikanten geht). An dieser Stelle werden die Ähnlichkeiten auch geringer und die Geschichte von Andrevon nimmt ihren dramatischen und zum Teil auch tragischen Lauf. Etliche Elemente, die im Laufe der Geschichte auftauchen, kennt man zwischenzeitlich aus zahllosen SF-Filmen oder Büchern, doch weiß Andrevon eine Atmosphäre zu schaffen, die trotz des Alters der Geschichte zu beeindrucken weiß: Eine Gesellschaft, die übereinkommt, pro Jahr eine Millionen Menschen per Losentscheid zu töten und dies ganz offiziell mit legalen Mitteln sanktioniert, erscheint als alltäglicher Wahnsinn – und nicht jedes Opfer der „Frettchen“ ist gewillt, seiner vermeintlichen Pflicht freiwillig nachzukommen.

 

Afif Khaled wurde am 10.11.1974 in Marokko geboren. Nach einem Studium der Maschinenbautechnik besuchte er Abendkurse an der „L'école d’art Gérard Jacot“ im französischen Belfort. Im Jahr 2000 zog er nach Angoulême, wo er einen Hochschulabschluss in Bildender Kunst machte. Seine anschließende Arbeit brachte ihn nach Bordeaux, wo er als Graphiker und Illustrator arbeitet. Gemeinsam mit Jean-Pierre Andrevon schuf er den Comic „Jour de Zapping“, der 2001 in der Zeitschrift „KOG“ erschien. Die Zusammenarbeit von Khaled und Andrevon führte zur Comic-Adaption des 1983 erschienen Romans „Le Travail du Furet“ von Jean-Pierre Andrevon, die als „Les Chroniques du Centrum“ umgesetzt wurde. Außerdem gestaltet er Cover-Illustrationen für den Verlag „Imaginaires Sans Frontières“.

 

Afif Khaled bebildert und koloriert bemerkenswert die düstere Geschichte des französischen Sciencefiction-Bestseller-Autors Jean-Pierre Andrevon, wobei immer wieder die eindrucksvollen Ansichten von Straßenschluchten und gigantischen Wolkenkratzerkonglomeraten mit ihren Bildern auf zum Teil ganzseitigen Panels den Leser in den Bann ziehen. Die Figuren selbst sind eher kantig und in ihren Konturen klar umrissen – sehr ausdrucksstark, aber in der Darstellung ihrer Bewegung oftmals etwas zu statisch. Ansonsten zeigt sich Khaled nicht sonderlich experimentierfreudig, wie man es sonst des Öfteren bei SF-Comics erlebt – seine Panels sind ordentlich in Reih und Glied angeordnet und so sind es lediglich die unterschiedlichen Perspektiven, die dem Leser Abwechslung bieten.

 

Qualität, Ausstattung & Übersetzung

Die Ehapa-Comic-Collection präsentiert „Die Chroniken von Centrum“ als abgeschlossene Story in einem Band (ALL IN ONE), wobei die vorliegende Ausgabe die drei Einzelbände „Le travail du Furet“ (2004), „Le furet et la colombe“ (2005) und „Le Furet montre les dents“ (2007) umfasst. Die Druckqualität der vorliegenden 144 Seiten ist gut und die Verarbeitung des Hardcoverbandes ist ebenfalls hervorragend. An der Übersetzung von Uwe Löhmann gibt es von meiner Seite aus nichts zu kritisieren.

In Sachen Ausstattung gibt es im Anhang einige zusätzliche Cover, ansonsten bedauerlicherweise aber kein weiteres Material zur Geschichte, wie man es vielleicht bei einem solchen Band erwarten würde. Nähere Informationen zum Autor oder Zeichner sind deshalb auch bedauerlicherweise Fehlanzeige.

 

Fazit:

Die Comic-Adaption des 1983 erschienen Romans „Le Travail du Furet“ von Jean-Pierre Andrevon kann unter Umständen Fans des SF-Genres nicht unbedingt durch seinen bahnbrechenden Plot überzeugen, da man Ähnliches in den letzten drei Jahrzehnten in ähnlicher Form und etlichen Varianten entweder im Kino oder als Comic bereits gesehen hat. Dennoch haftet dieser Geschichte etwas schon fast unheimlich Menschliches an, da sie eine durchaus plausible Geschichte erzählt, die durch ihre ätzende und menschenverachtende Logik den Leser in ihren Bann zieht und mit einem recht ungewöhnlichen Schluss aufwarten kann, den man in dieser Form nicht unbedingt erwartet hätte. Hier und da mag die Geschichte zwar etwas holprig sein und auch die Zeichnungen von Afif Khaled sind manchmal etwas „verhuscht“, doch für Freunde von Geschichten im Stile von Philip K. Dick dürfte dieser Comic eine echte Empfehlung sein.