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Daddy
Bewertung:
(4.2)
Von: Jörg Deutesfeld
Alias: Debaser
Am: 28.02.2012
Autor:Matthias Schultheiss (Szenario und Zeichnungen)
Typ:Comic / Graphic Novel
Setting:Endzeit-Szenario
VerlagSplitter Verlag
ISBN/ASIN:978-3-86869-442-0
Inhalt:72 Seiten, Hardcover
Preis:15,80 EUR
Sprache:Deutsch

Inhalt:

Wir befinden uns in einer Zeit, wo furchtbare Kriege, barbarische Taten und Katastrophen das Leben der Menschen des dritten Jahrtausends ausmachen. Also verlangt Gott von seinem Sohn, dass er sich erneut den Menschen offenbart. Es scheint fast so, als wolle sich Geschichte wiederholen, doch diesmal hat Jesus keine Lust, sich den Menschen zu offenbaren, hat er doch die letzte Täuschung durch seinen Vater leidvoll durchschaut. Zur Strafe nimmt Gott ihm das Augenlicht, damit er blind durch die Welt wandert. Aus Ausgleich stellt er ihm allerdings einen kleinwüchsigen „Führer“ an die Seite, der ihn durch die Straßen, Slums und übelsten Viertel des Landes begleitet und der direkt aus der Hölle kommt.

 

Doch diesmal wandelt kein Jüngling unter den Menschen, sondern Jesus erscheint als ungepflegter, aufgedunsener und langhaariger Junkie, der sein eigenes Leiden stets mit Drogen bekämpft, die ihm sein „Führer“ besorgen muss. Allerdings kümmert sich Jesus um das Leid der Menschen, insbesondere um das der vielen Kinder, die Gott scheinbar gleichgültig sind. Er heilt sterbenskranke Kinder, rettet sie aus brennenden Häusern und noch vieles mehr.

 

Aber da ist auch die Institution der Kirche, die von diesem wundersamen Mann erfährt. Fast scheint es, als sei mit ihm der Messias erneut auf die Erde zurückgekehrt und verbreite eine neue Botschaft. Schnell werden Pläne geschmiedet, wie man diesem Treiben ein Ende bereiten kann und Geschichte wiederholt sich – diesmal allerdings mit einem etwas anderen Ausgang.

 

Über den Autor:

Der 1946 in Nürnberg geborene und in Hamburg lebende Künstler und Dozent Matthias Schultheiss zählt zu den international anerkannten Stars der Comicszene und hat sich als Pionier des deutschen Comicromans einen Namen gemacht.

 

Nach einer Lehre als Möbelschreiner folgte von 1967 bis 1968 ein Studium an der Hochschule für bildende Künste (HFBK) mit dem Schwerpunkt Illustration in Hamburg. Nach seinem Abschluss arbeitete er bis 1978 zunächst als freier Illustrator in den Bereich Werbung, Cover- und Romanillustration. 1981 veröffentlichte er seine erste Graphic Novel „Trucker“ im Comic Reader der Edition Becker & Knigge, die rasch auf den talentierten Künstler aufmerksam machte.

 

Auch in Frankreich wurde man auf Schultheiss aufmerksam und so schaffte er 1985 seinen Durchbruch in dem renommierten französischen Verlag Albin Michele mit dem Comic „Kalter Krieg“, in dem ein junger Hacker die Weltgeschichte durcheinander bringt, da er ein koreanische Flugzeug in den Luftraum der Sowjetunion steuert. Der Band enthält drei weitere Kurzgeschichten und wurde nach seinem Erscheinen in Deutschland indiziert. 1986 folgte „Theorem de Bell“ und beim Verlag Glenat „Le Reve du Requin“. Überaus erfolgreich gestaltete sich auch seine graphische Umsetzung der Kurzgeschichten von Charles Bukowski, deren Ausgaben nicht nur europaweit, sondern auch in Amerika vertrieben wurden.

 

Überaus produktiv folgten rasch die jeweils beeindruckenden dreibändigen Reihen „Die Wahrheit über Shelby“ (1986) und „Die Haie von Lagos“ (1986), die zunächst bei französischen Verlagen erschienen und erst anschließend für den deutschen Markt übersetzt wurden. Für seine kreative Leistung erhielt er 1987 er den Max-und-Moritz-Preis der Stadt Erlangen als bester deutschsprachiger Comic-Künstler. Aber auch auf anderen Gebieten zeigt sich Matthias Schultheiss recht umtriebig und so inszenierte und produzierte er 1989 das Theaterstück „Sharks Dream“ im Kampnageltheater in Hamburg. In den folgenden Jahren erschienen „Night Taxi“ (1990), „Talk Dirty“ (1991) und „Blutsbrüder“ (1992). Den renommierten italienischen Comic-Preis „The Yellow Kid“ erhielt er 1990 in Lucca und 1992 sollte eine Ausstellung seines Gesamtwerkes in Angouleme folgen.

 

Schultheiss wagte 1993 den großen Versuch, sich auf dem amerikanischen Markt mit der Serie „Propellerman“ zu etablieren, der von dem Verlag Dark Horse Comics produziert wurde. Doch nach nur 8 Einzelheften wurde die Reihe abgesetzt, da sie vom amerikanischen Publikum nicht angenommen wurde. Eine weitere internationale Zusammenarbeit folgte, als der japanische Verlag Kodansha Anfang der 90er Jahre in Europa nach Comiczeichnern suchte, die Comics im Manga-Stil für den japanischen Markt zeichnen sollten. Neben Baru („Autoroute de Soleil“) zählte auch Matthias Schultheiss zu den ausgewählten Zeichnern und entwickelte ab 1994 die Comic-Reihe „Im Zentrum des Wahnsinns“. 1996 hatte er bereits über 400 Seiten fertiggestellt, als plötzlich alle noch laufenden Verträge und Projekte mit europäischen Zeichnern ohne Angabe von Gründen beendet und die auf 700 Seiten geplante Reihe nicht mehr fertiggestellt wurde.

 

Es waren wahrscheinlich nicht zuletzt diese beiden gescheiterten Projekte, die dem Engagement von Schultheiss im Bereich des Comics einen herben Dämpfer verpassten und so folgten in den nächsten Jahren lediglich Comicnovellen und Kinderbuchprojekte. So illustrierte er 2002 nach einem Text Detlev Wahls die Kindergeschichte „Die Pfütze“ für den Lappan Verlag. In der Zwischenzeit arbeitete Schultheiss an der Entwicklung für verschiedene TV-Serien mit und erhielt im Jahr 2005 die Auszeichnung des Art Directors Club für Deutschland (ADC) in der Kategorie „Firmendarstellungen und Jahresberichte"

 

Bereits Ende 2007 unterschrieb er einen Exklusiv-Vertrag bei dem französischen Verlag Glenat und legt als erstes von den drei geplanten umfangreicheren Graphic Novels den Band „Die Reise mit Bill“ vor, der in Deutschland in Lizenz vom Splitter Verlag herausgegeben wird. Ende März 2008 veröffentlichte er in dem japanischen Manga-Magazin „Mandala“ die 40-seitige Graphic Novel „Die Frau auf dem Fluss“, der in 2009 „Daddy“ folgte. Matthias Schultheiss lebt und arbeitet in Hamburg, wo er an der DFI (Design Factory International) Illustration, Storyboard und figürliches Zeichnen unterrichtet.

 

Schreibstil & Artwork:

Es ist schon eine wahre Freude zu sehen, wie Schultheiss in „Daddy“ den klassischen zeilenweisen Aufbau durch hochgestellte, insbesondere großformatige oder ineinander verschachtelte Bilder aufbricht und es ihm dennoch gelingt diese Panels zu angenehmen Sequenzen zu arrangieren, die es dem Leser ermöglichen, ohne Probleme der Handlung zu folgen. Zeichnerisch besticht Schultheiss bei seinen Figuren und den Schauplätzen durch einen überaus klaren Strich, der bei aller Neigung zur Karikatur und realistisch-drastischen Darstellungen immer wieder klar und deutlich auszumachen ist. In manchen Panels findet man auch grandiose expressive Ausbrüche, die immer wieder von Schultheiss' hohem künstlerischen Können Zeugnis geben.

Die Kolorierung ist fast durchgehend düster und in gedeckten Farben gehalten, die immer wieder durch ein geschicktes Zusammenspiel von Licht und Schatten beeindrucken und hervorragend die Stimmung der Geschichte tragen. Eingepflegt in die Hintergründe sind etliche „Kritzeleien“, wie sie nur Kinderhände zu Papier bringen können und bei denen es immer wieder um Mord, Totschlag und sexuelle Gewalt in all ihren Variationen geht.

 

Als wäre Schultheiss mit zunehmendem Alter in seinen jüngsten Veröffentlichungen auf der Suche nach den letzten Dingen: In „Daddy“ widmet er sich mit dem „Theodizee-Problem“. Der Begriff Theodizee stammt von den griechischen Wörtern theos = Gott und dike = Gerechtigkeit und ist in der Philosophie und Theologie die Bezeichnung für die begründete Rechtfertigung Gottes hinsichtlich des Übels und des Bösen in der Welt.

Das Theodizee-Problem besteht wegen des Widerspruchs zwischen zwei Aussagen: einerseits derjenigen, es gebe einen allmächtigen, allgütigen und allwissenden Gott, andererseits derjenigen, das Übel und das Böse in der Welt existieren real. Mit seiner Figur des Jesus gibt Schultheiss eine verblüffende und zugleich einfache Antwort auf diese Frage, in dem er Gott als duales Wesen definiert, das zugleich böse und gut ist.

 

Und erzählerisch? Wer nun meint, er müsse Schultheiss auf einem philosophischen Exkurs auf hohem intellektuellen Niveau begleiten täuscht sich. Sein Jesus ist ein blinder, drogenabhängiger Mensch, der beständig auf der Suche nach dem nächsten „Schuss“ ist und dessen Herz trotzdem für das Wohl der Kinder und der Menschheit schlägt. Sein Gegenpart ist ein kleinwüchsiger Mann, dessen Ähnlichkeit mit Adolf Hitler nicht zu leugnen ist, auch wenn dieser Name niemals fällt. Er ist es, der Jesus mit Drogen versorgen muss, der ihn durch die Straßen und Hinterhöfe begeleitet und ihm die Welt zeigt. Dieses ungleiche Duo sorgt mit seinen respektlosen und hintergründigen Dialogen immer wieder beiläufig für Provokation, wobei die Grenze des vermeintlich guten Geschmacks hier und da gerne überschritten wird.

 

Das Leid, dem Jesus überall begegnet, versucht die Kirche auch weiterhin auf traditionelle Weise zu erklären: Leiden sei eine Strafe Gottes und Folge der Sünde. Schultheiss entlarvt in seinem Comic diese „sadistische Theologie“ als Flucht vor der Verantwortung. Angesichts des Leides gibt es nur den Aufstand dagegen, das eigentlich Menschliche ist das Aushalten des Absurden. Ob sich Schultheiss allerdings letztlich versöhnlich zeigt, möchte ich an dieser Stelle dem Leser nicht verraten, sondern lediglich den Hinweis auf einen überaus denkwürdigen Schluss des Bandes geben.

 

Qualität & Ausstattung

In Sachen Qualität gibt es beim Splitter Verlag wie so oft von meiner Seite keinen Anlass zu Kritik, bekommt man doch einen tadellos verarbeiteten und stabilen Hardcoverband, der mit seinem klaren Druckbild und der Beschaffenheit des verwendeten Papiers überzeugt. In Sachen Ausstattung gibt es leider keine Extras, was ich mir bei einem Autor und Zeichner wie Schultheiss allerdings sehr gewünscht hätte. Schließlich bekommt man hier nicht unbedingt leichte Kost serviert und einige erklärende Worte wären sicherlich überaus interessant gewesen. Ganz zu schweigen von einem Blick auf die Skizzen und Entwürfe zu „Daddy“.

 

Fazit:

Daddy kann sicherlich auf mehrere Arten gelesen werden. Entweder als ziemlich böse und genial in Szene gesetzte „Fortsetzung“ der Geschichte von Jesus, die diesmal ein etwas anderes Ende nimmt und somit fast schon Hoffnung verbreitet, oder aber als recht persönliche Abrechnung von Schultheiss mit der Institution Kirche oder sogar mit Gott, an den er nach eigenen Angaben ohnehin nicht glaubt.

Auch wer vielleicht auf den ersten Blick meint, Schultheiss wolle mit aller Gewalt dem Bildungsbürgertum eine lange Nase zeigen und mit viel hochtrabenden und manch blasphemischen Geschwätz für Schlagzeilen sorgen, den muss ich hier enttäuschen. Bei allem lästerlichen Krawall zeigt sich Schultheiss in diesem Band sowohl künstlerisch als auch intellektuell von seiner allerbesten Seite. Für mich persönlich eine bemerkenswerte Veröffentlichung, die ich jedem (auch atheistischen) Leser nur empfehlen kann.