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Lulu – Die nackte Frau
Bewertung:
(4.0)
Von: Jörg Deutesfeld
Alias: Debaser
Am: 13.02.2013
Autor:Étienne Davodeau (Autor und Zeichner)
Typ:Graphic Novel
Setting:Frankreich
VerlagSplitter Verlag
ISBN/ASIN:978-3-86869-560-1
Inhalt:160 Seiten, Hardcover mit SU
Preis:24,80 EUR
Sprache:Deutsch

Inhalt:

Lulu ist unterwegs in einer anderen Stadt, da sie sich um einen Job bewerben will. Doch Lulu ist seit mehr als 15 Jahren aus dem Berufsleben raus und hat die letzten Jahre damit verbracht sich um ihre Familie und die drei Kinder zu kümmern. Niemand scheint sie einstellen zu wollen, fehlt ihr doch berufliche Erfahrung und einer Mutter mit drei Kindern traut man auch nicht unbedingt einen Einstieg in einem Vollzeitjob zu.

 

Unterstützung in ihren Bemühungen um einen Job erhält sie noch nicht einmal durch ihren Ehemann Tanguy, der ihr vielmehr am Handy vorwirft, auch die neue Absage geahnt zu haben. Dieses Telefonat mit ihrem Mann ist für Lulu der Punkt, an dem sie nicht den Zug nach Hause nimmt, sondern sich ein Hotelzimmer für eine Nacht mietet. Sie weiß wahrscheinlich selbst nicht genau, warum sie in dem Hotel übernachten will, doch abends trifft sie im Speisesaal auf Sophie, die als Handelsvertreterin arbeitet. Nach anfänglichem Zögern schüttet Lulu ihr Herz aus und berichtet, ihr Leben gefalle ihr nicht mehr und sie wisse auch nicht, ob sie ihren Mann noch liebe. Zum Glück habe sie noch ihre Kinder, aber das wäre es eigentlich auch schon. Sophie überredet Lulu am nächsten Tag einfach mit ihr weiter zu fahren – was sie nach anfänglichem Zögern auch macht.

 

Dies ist der Punkt, an dem Lulu ausbricht, nachdem sie Sophie mitgenommen hat, sie am Meer spazieren geht und auf Charles trifft. Dieser unbekannte Mann gibt ihr eine Unterkunft auf dem Campingplatz, wo sie auch die Brüder von Charles kennenlernt. In einer Atmosphäre der Freiheit und Ungezwungenheit beginnt Lulu die Fesseln ihres Lebens zu lösen und dennoch nicht den Kontakt zu ihren Freunden und Kindern zu verlieren. Im Verlauf ihrer langen Reise trifft sie auch auf Marthe, eine betagte Rentnerin, die Lulu ebenfalls eine Unterkunft gibt, nachdem Lulu versucht hat, sie an einem Bankautomat auszurauben. Aus den wenigen Tagen der Auszeit die Lulu sich nehmen wollte, werden Wochen.

 

Doch auch ihre Freunde, ihr Mann und ihre Kinder machen sich Sorgen um Lulu. Zwar gibt es immer Anrufe von Lulu und Morgane, die Tochter von Lulu schafft es sogar sich mit ihrer Mutter zu treffen, doch das Leben der Familie wird wahrscheinlich nie wieder so sein, wie vor dem Tag, an dem Lulu beschlossen hat sich eine Auszeit zu nehmen und die Tage am Meer zu genießen.

 

Schreibstil & Artwork:

Der Autor und Zeichner Etienne Davodeau wurde am 19.10.1965 in Botz-en-Mauges (Maine-et-Loire) als Sohn einer klassischen Arbeiterfamilie geboren. Die Eltern – beide Jahrgang 1942 – begannen mit 13 bzw. 14 Jahren zu arbeiten, sich aber auch gewerkschaftlich zu orientieren. Wichtige Episoden und Erfahrungen, die Davodeau auch in seinem späteren Leben nachhaltig beeinflussen sollten. Nach seinem Kunststudium an der Universität in Rennes gründete er mit einigen gleichgesinnten Comic-Fans das Studio „Psurde“.

Sein erstes Album „L’Homme qui n’aimait pas les arbres“ veröffentlichte er 1992 in einer Kollektion für junge Autoren unter dem Titel „Generation Dargaud" beim gleichnamigen Verlag. 1996 folgten zahlreiche weitere Veröffentlichungen, insbesondere für Delcourt. Davodeau arbeitete auch mit David Prudhomme an der Comicadaption von „La Tour des Miracles“ nach einer Geschichte von Georges Brassens zu zusammen und wurde für seine Veröffentlichung von „Lulu – Die nackte Frau“ mit zahlreichen nationalen und internationalen Preisen ausgezeichnet

 

Die Arbeiten von Etienne Davodeau drehen sich hauptsächlich um zwar fiktive aber durchaus realistische Geschichten von Menschen. Seine eigene, einfache Herkunft und seine Wurzeln in der Provinz machen es ihm einfacher Porträts von gewöhnlichen Menschen zu zeichnen und sie mit ihren Problemen, Sorgen und Freuden lebendig zu gestalten. So auch die Geschichte von Lulu, die zwar etwas rätselhaft beginnt, aber den Leser mitnimmt auf die Reise einer Frau, die Mann und Kinder verlässt, ohne sie aufzugeben und sich eine Unterbrechung von der Eintönigkeit der leeren Tage zu nehmen um zu sich selbst zu finden. Ohne es zu ahnen wird der vermeintliche Urlaub von der Familie und allen Verpflichtungen zu einer Zäsur und inneren Einkehr, aus der Lulu gänzlich verändert hervorkommt. Sie ist immer noch der gleiche Mensch, aber die Erlebnisse ihrer Reise haben ihre Einstellung zum Leben in andere Bahnen gelenkt.

 

Interessanterweise wird die Geschichte nicht von Lulu erzählt, sondern von ihren Freunden und ihrer Tochter, die aus Telefonaten und Gesprächen versuchen, die Geschehnisse der letzten Wochen zu rekonstruieren. So bleibt immer die Frage für den Leser – was ist aus Lulu geworden?

 

Als Zeichner präsentiert Davodeau einen ziemlich unspektakulären Bildaufbau. Immer wieder sind es vier Zeilen für die Panels, die selten durch ganzseitige Panels oder Panoramadarstellungen unterbrochen werden. Seine realistisch gehaltenen Figuren bewegen sich vor den zum Teil minimalistischen Hintergründen mit kleinen Gesten, aber starkem Ausdruck in der Mimik. Durch diese Reduzierung, bei der die Akteure zum Teil auch ohne Dialoge auskommen, reduziert er die Welt von Lulu auf ganz wenige, wesentliche Elemente, die eine geradezu magische Wirkung auf den Leser haben und man einfach nur gespannt ist, wie sich die Reise der Protagonistin fortsetzt.

 

Qualität, Ausstattung & Übersetzung:

Der Splitter Verlag bietet seinem Leser auch mit diesem Hardcoverband der SplitterBooks-Reihe die gewohnt vorbildliche Qualität. Für sein Geld erhält man einen solide verarbeiteten Band, der sowohl durch ein angenehmes Druckbild als auch durch seine Verarbeitung überzeugt. In Sachen Ausstattung gibt es in diesem Band keine Extras, was dem Band allerdings auch sehr gut zu Gesicht steht. Hier wären der Abdruck eines Sketchbook oder Anmerkungen des Autors zu seiner Geschichte absolut fehl am Platz, da der Leser sich einfach selbst Gedanken machen sollte. Insgesamt also eine weitere kleine Perle aus der SplitterBooks-Reihe, die nicht zuletzt auch durch die tadellose Übersetzung von Delia Wüllner-Schulz angenehm zu lesen ist.

 

Fazit:

Es ist eine liebenswerte und zerbrechliche Heldin, die Etienne Davodeau mit seiner Figur der Lulu präsentiert. Sie ist keine Egomanin, die mit 40 Jahren anfängt ihrem alten Leben zu entfliehen und woanders neu anzufangen, sondern es ist vielmehr die stille und unprätentiöse Rebellion einer Frau, die an sich und ihrem Leben zweifelt, nach Antworten und Sinn sucht und dabei ihren gesunden Menschenverstand als auch die Liebe zu ihren Kindern niemals verliert.

 

Ein ruhiger und nachdenklicher Band mit eindringlichen Figuren die aus dem echten Leben stammen und mit ihren Äußerungen, Handlungen und Auftreten zeigen, wie dünn die Wände unseres vermeintlichen Gefängnisses sind, welches wir Leben bezeichnen und wie wundersam erfolgreich ein Ausbruch sein kann.