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Wien: Dekadenz & Verfall
Bewertung:
(4.0)
Von: Jörg Deutesfeld
Alias: Debaser
Am: 08.02.2011
Autor:Peer Kröger, Christoph Maser, Andreas Melhorn, Kaid Ramdani, Ralf Sandfuchs, Ilja Steffelbauer, Uwe Weingärtner, Markus Widmer
Typ:Quellen- und Abenteuerband
System:H.P. Lovecrafts Cthulhu
Setting:Wien
VerlagPegasus Press
ISBN/ASIN:978-3-941976-03-0
Inhalt:240 Seiten, Hardcover
Preis:34,95 EUR
Sprache:Deutsch

Die Optik:

Als komplett deutsche Eigenproduktion bietet Pegasus Press mit dem Abenteuer- und Quellenband „Wien: Dekadenz & Verfall“ dem Käufer bereits optisch eine einwandfreie Qualität, oblag doch die Gestaltung des stabilen Hardcoverbandes wieder einmal Manfred Escher, der mit seiner düsteren Montage aus Wiener Sehenswürdigkeiten und allerlei Mystik bereits gespannt auf den Inhalt macht.

 

Das Innenleben gestaltet sich auf seinen rund 240 Seiten durchgehend in Schwarz-Weiß und ist im Layout zweispaltig. Die Überschriften sind deutlich hervorgehoben, gut gegliedert und die Texte durch zeitgenössische Fotografien, Textkästen und auch Grundrisszeichnungen von Gebäuden angenehm aufgelockert. Aufgeteilt in vier große Kapitel, die sich mit der Stadt beschäftigen und in denen es einiges Wissenswertes über die Donau-Metropole, ihre Einwohner, typisch wienerische Gewohnheiten als auch finstere Mythen zu erfahren gibt, findet man am Ende des Bandes zwei größere Abenteuer nebst den gestalterisch hervorragend gelungenen Handouts.

 

Zusätzlich enthält der Band eine zeitgenössische Karte von Wien im Format A2, die sich praktischerweise in einer kleinen Plastikhalterung am Ende des Bandes auf der Umschlaginnenseite befindet. Das von mir hochgeschätzte und hilfreiche Lesebändchen ist ebenfalls vorhanden, wobei ich bei der Fülle von Material allerdings einen Index vermisse, der das Leben in hektischen Spielleitersituationen einfacher gestaltet. Doch dies dürfte schon der einzige Kritikpunkt sein.

 

Inhalt

Bevor der Leser in das morbid-charmante Flair von Wien eintauchen darf, gibt es zunächst ein Vorwort von Jan Christoph Steines, welcher dem Leser erläutert, warum ausgerechnet Wien ein kompletter Quellenband gewidmet wurde.

 

Zur Einstimmung auf Wien gibt es im ersten Kapitel „Die Stadt Wien“ zunächst einen komprimierten historischen Abriss über die fast 2.000 Jahre umfassende Geschichte der Stadt, die mit ihren Ursprüngen in der Römerzeit beginnt und einen weiten Bogen über das Frühmittelalter bis hin zu den Habsburgern spannt und natürlich auch nicht die Belagerung Wiens durch das osmanische Reich außer Acht lässt. Von der Glanzzeit im Barock und Klassizismus geht es dann nahtlos in die Zeit des Ersten Weltkriegs und den gesellschaftlichen Umbrüche über, die unweigerlich mit der Gründung der Ersten Republik verbunden sind. Insgesamt ein kurzer aber lesenswerter Blick auf die umfangreiche Geschichte der Stadt, die einiges über das Selbstverständnis dieser Metropole aussagt.

 

Nach dieser Reise durch die Zeit wendet sich das Kapitel den damals noch 21 Bezirken von Wien und deren näherer Vorstellung zu. Dabei geht es allerdings weniger um die Sehenswürdigkeiten der Stadt, die durchaus Erwähnung finden, als um die Besonderheiten der einzelnen Bezirke, deren soziales Gefüge in den 20er Jahren und um Hinweise auf wichtige Persönlichkeiten und sonstige wissenswerte Fakten, wie man sie für das Rollenspiel benötigt. Doch nicht nur die einzelnen Bezirke der Stadt werden vorgestellt, sondern auch die Donau (die in dieser Metropole eine nicht zu unterschätzende Bedeutung hat) und die nähere Umgebung Wiens, wie beispielsweise der Wienerwald und einige ausgesuchte Orte in der näheren Umgebung, die sich fürs Rollenspiel durchaus eignen. Nicht fehlen darf auch ein Abschnitt über die „Unheimlichen Orte“ in Wien, zu denen nicht nur die zahlreichen Friedhöfe und Gruften zählen, sondern auch ironischerweise die Elendsquartiere. Zahlreiche Grundrisszeichnungen, Karten und besonders hervorgehobene Hinweise ergänzen die Ausführungen in diesem Kapitel.

 

Ging es im ersten Kapitel noch um die Geschichte und die äußere Form von Wien, so dreht sich im zweiten Kapitel „Wiener Aspekte“ weitestgehend alles um die Infrastruktur der Stadt und beleuchtet neben dem politischen Alltag nach dem Ende der k.u.k.-Monarchie wichtige Bereiche wie das Gesundheitswesen, die Polizei, den Verkehr und den Einzug der modernen Technik.

 

Den Einstieg macht ein überaus lesenswerter Abschnitt über Krankenanstalten. Hierzu gehören nicht nur öffentliche Anstalten, sondern auch private Einrichtungen. Besonders interessant dürfte die Heil- und Pflegeanstalt für Geistes- und Nervenkranke „Am Steinhof“ sein, die Größte ihrer Art in Wien. Sicherlich wichtige Informationen, die in der Heimatstadt von Sigmund Freud unter Umständen für allzu wagemutige Charaktere sehr schnell spielrelevant werden könnten.

 

Wie es um Gas und Elektrizität, aber auch mit der Post und Telefon in den zwanziger Jahren in Wien bestellt ist, bekommt man ebenfalls recht kurzweilig erläutert, wie auch einige hochinteressante Ausführungen zum Thema „Verkehr“. Gilt doch in Wien in den 20er Jahren (ebenso wie in weiten Teilen Österreichs) Linksverkehr! Dem Verkehr, der nicht nur aus Automobilen und den langsam „aussterbenden“ Fiakern besteht, sondern auch der Stadtbahn und den Wiener Lokalbahnen wird sich eingehend gewidmet. Auszüge aus Fahrplänen, die Beschreibung von Nahverkehrsverbindungen (bis ins Umland) sind hier ebenfalls zu finden.

 

Auf die Wiener Polizeidirektion als auch auf die österreichische Strafgerichtsbarkeit und den Anfängen von Interpol wird ein ganz besonderes Augenmerk gerichtet, unterscheiden sich doch diese Bereiche in einigen Aspekten nicht unwesentlich von den deutschen Gepflogenheiten. Eine kompakte Übersicht über unterschiedliche Verbrechen und deren Strafmaß gibt es in einer gesonderten Tabelle.

 

Dem Leben „Als Spielercharakter in Wien“ widmet sich das dritte Kapitel und wendet sich dem alltäglichen privaten Leben zu. In drei großen Abschnitten gibt es für einen in Wien heimischen Charakter alles Wissenswerte über das allgemeine Leben in Wien, die Mentalität der Wiener als auch Religion, Kaffeehausatmosphäre, allerlei leibliche Genüsse wie auch Kultur und Sprache zu erfahren. Um der Wiener Sprache etwas näher zu kommen, gibt es eine Speisekarte mit typisch Wiener Gerichten und deren Übersetzung ins Hochdeutsche. Gleiches gilt für einige typische Austriazismen, die man heranziehen kann, um etwas mehr Flair ins Spiel zu bringen (und um die Spieler unter Umständen in den Wahnsinn zu treiben!).

 

Was man in Wien in seiner Freizeit alles tun und erleben kann, erfährt man im gleichnamigen Abschnitt, der sich den Museen und Bibliotheken, den zahlreichen Zeitungen, Ausflügen und Sommerfrischen als auch den Clubs und den Kaffeehäusern zuwendet. Allerdings seien deutsche Charaktere an dieser Stelle bereits gewarnt – Wien hat kein sonderlich ausgeprägtes Nachtleben, wie man es vielleicht aus anderen europäischen Großstädten kennt!

 

Im dritten großen Abschnitt des Kapitels geht es um „Wiener Berufe“. Eine Übersicht nimmt sich einer ganzen Reihe von Berufen des Spieler-Handbuches an und erweitert diese Liste um lokaltypische Zusätze und Ergänzungen. Insofern gibt es hier keine großen Überraschungen, auch wenn teilweise neue Berufe, wie der des Beamten vorgestellt werden. Für den Spielleiter, als auch den Spieler ein sehr nützlicher Abschnitt, da man eventuell notwendige Anpassungen nicht selbst durchführen muss oder aber einfach nur einige Anregungen erhält, welche Möglichkeiten in Wien bestehen. Übersichten mit spieltechnischen Werten von österreichischen Persönlichkeiten und eine Übersicht über die wichtigsten Ereignisse in Österreich während der 20er Jahre schließen das Kapitel ab.

 

Das vierte Kapitel handelt „Von Spukgestalten und Mythosumtrieben“ und bietet im ersten Abschnitt eine Sammlung von Aufsehen erregenden Kriminalfällen aus Wien, die kurz dargestellt und eine wahre Fundgrube für kreative Spielleiter sein dürften. Es gibt aber auch „Wiener Geschichten – Sagen von gestern und Spukgestalten von heute“, in denen man sich rätselhaften Erscheinungen und anderen kuriosen, mit normalem Menschenverstand nicht erklärbaren Phänomenen zuwendet.

 

Dem „Mythos in Wien“ widmet sich ein eigener, höchst interessanter Abschnitt, der sich zunächst mit dem wissenschaftlichen Okkultismus, der Theosophie und Ariosophie und dessen Anhängern und Verbreitung in Wien beschäftigt. Natürlich dürfen dubiose Geheimgesellschaften ebenso wenig fehlen, wie in Wien publizierte Mythoswerke als auch Wiener Persönlichkeiten, die direkt oder indirekt mit dem Mythos zu tun haben. Als besonderes „Schmankerl“ gibt es noch die Vorstellung der Ghoule von Wien, die immer noch in den Katakomben der Stadt ihr Unwesen treiben.

 

Die beiden letzten Kapitel des Bandes mit insgesamt rund 80 Seiten gehören den beiden Abenteuern. Da wäre zum einen „Der Vogelmann“ von Peer Kröger als auch „Blutwalzer“ von Ralf Sandfuchs, für die es einige Anmerkungen gibt, wie man beide Abenteuer mit einigen Kniffen miteinander verbinden kann.

 

Im ersten Abenteuer „Der Vogelmann“ erschüttern eine Reihe seltsamer Morde die Donau-Metropole und schon bald sind auch die Charaktere in diese Geschehnisse involviert. Doch nicht nur die Katakomben der Stadt gilt es zu entdecken, sondern auch die Entführung des wohl bekanntesten Psychoanalytikers der Stadt zu klären – und wer sollte das wohl anders sein als Sigmund Freud! Das zweite Abenteuer, „Blutwalzer“, bringt die Charaktere hingegen mitten in einen erbitterten Kampf, in den auch die katholische Kirche verwickelt ist. So darf es nicht wundern, wenn für das Finale der Stephansdom als Schauplatz gewählt wurde und es hier für die Charaktere gilt mit allen Mitteln ein Ritual aufzuhalten.

 

Man merkt den beiden Abenteuern deutlich an, dass sie von recht erfahrenen Autoren verfasst worden sind, die wissen worauf es bei einem stimmigen und zugleich auch schlüssigen Szenario ankommt. Dabei sind es allerdings bei weitem keine „One-shots“, die einen schnellen Einstieg in Wien ermöglichen sollen, sondern beide Abenteuer besitzen einen nicht unbeträchtlichen Umfang, der über mehrere Abende hinweg eine ganze Menge Spielvergnügen bietet.

 

Fazit:

Bereits 1990 gab es in der „Zauberzeit“ mit dem Abenteuer „Wiener Blut“ einen mittlerweile legendären Ausflug in die Metropole an der Donau und schon seinerzeit konnte man feststellen, dass in Wien die Uhren anders gehen: Man ist charmant, gemütlich und ein „bisserl“ eigen. Man sagt „Küss die Hand!“, sitzt bei einem kleinen Braunen drei Stunden im Kaffeehaus und kennt Opernsänger und Schauspieler unter Umständen besser als seine eigene Verwandtschaft.

Sich dieses Naturells mit dem Flair der 20er Jahre anzunehmen, um Wien als neuen deutschsprachigen Schauplatz für Cthulhu zu gewinnen, dürfte diesem Quellenband (nebst seinen beiden Abenteuern) hervorragend gelungen sein. Die vorgelegten Informationen sind gut recherchiert, lassen sich überaus angenehm lesen und sind trotz der Fülle der Autoren gut aufeinander abgestimmt. Der Fokus des Bandes liegt dabei thematisch auf den spieltechnisch relevanten Fakten, die keine Fragen offen lassen. Doch das ist hier bei weitem keine trockene Angelegenheit, wie man sie in einem gewöhnlichen Reiseführer findet und wird mit entsprechendem Lokalkolorit angereichert, so dass man ein durchaus sicheres Gespür für die Stimmung dieser Stadt erhält.

 

Niemand ist perfekt und so werden sich sicherlich einige profunde Kenner von Wien zu Worte melden, um kleinere Fehler zu kritisieren, die sich sicherlich hier und da in den einzelnen Kapiteln über die Stadt eingeschlichen haben. Ob diese absolute historische Genauigkeit für ein gelungenes Spiel nötig ist, glaube ich nicht, da dieser Band einfach alles bietet, was man benötigt. Wer als Spielleiter auf der Suche nach einem stimmigen und noch leidlich unverbrauchten Ort für neue Szenarien ist, der dürfte bei diesem Band voll auf seine Kosten kommen.