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Manara Werkausgabe 5 - El Gaucho
Bewertung:
(4.3)
Von: Jörg Deutesfeld
Alias: Debaser
Am: 04.05.2011
Autor:Hugo Pratt (Autor) und Milo Manara (Zeichner)
Übersetzer:Michael Leimer
Typ:Comic – Graphic Novel
Setting:Historisches Südamerika
VerlagPan Verlag
ISBN/ASIN:978-3-86607-980-9
Inhalt:148 Seiten, Hardcover mit SU
Preis:24,95 EUR
Sprache:Deutsch

Inhalt:

Eine Patrouille entdeckt während einer Volkszählung in der Abgeschiedenheit des Landesinneren bei einem Stamm von Indios einen alten Mann, der als Trommler des 71. schottischen Jagdgeschwaders mit den britischen Truppen vor über 100 Jahren versucht hat, Buenos Aires zu besetzen und den Spaniern die Herrschaft über das Land zu entreißen. Und so erinnert sich Tom Browne, der von den Indios nur Paraun genannt wird, im Gespräch mit einem Soldaten an seine Vergangenheit und beginnt von jenem 8. Juni 1806 zu erzählen, als britische Kriegsschiffe auf dem Rio de la Plata vor Buenos Aires lagen.

 

Während sich die Offiziere an jenem Tag an Bord der Kriegsschiffe ihrer Sache sicher sind und das englische Manöver in Buenos Aires nur als Vorspiel zu einer Kolonialrevolution gegen die Spanier sehen und sich über die politische Lage in der Stadt unterhalten, schlägt Flottillenadmiral Popham vor, der Korvette „Encounter“ einen Besuch abzustatten, auf der sich junge irische „Dienstmädchen“ befinden. Dieser Begriff dürfte sehr geschönt sein, handelt es sich doch um Prostituierte, deren einziger Zweck die Befriedigung der fleischlichen Gelüste der Offiziere ist.

 

Und so lernt der Leser auf der „Encounter“ die hübsche irische Prostituierte Molly Malone als auch den buckligen Seemann Matthew Falcon kennen. Der bucklige Matthew ist verliebt in Molly, doch diese scheint von dessen Zuneigung nichts zu ahnen. Molly hingegen fühlt sich dem jungen Trommler Tom Browne sehr zugetan, der wiederum nichts von den Gefühlen der jungen Frau für seine Person errät.

 

Tom Browne wird als Begleitung für Captain Gillespie ausgewählt, der sich an Land begeben soll, um sich mit dem Verbindungsmann der Einheimischen Verbündeten zu treffen. Für Molly bleibt keine Zeit Abschied von Tom zu nehmen, der einem ungewissen Schicksal entgegeneilt und so macht sie sich nur wenig später mit Matthew und seinem Kumpanen Clagg ebenfalls auf den Weg an Land, nicht zuletzt um sich hier vielleicht eine Zukunft aufzubauen, die ihr durch ihre Herkunft in England wohl für immer verwehrt bliebe. Sie ahnt allerdings nicht, dass Matthew einen Offizier getötet hat und desertiert, um in Südamerika ein neues Leben anzufangen. Es wird nicht lange dauern und die Navy wird die flüchtigen Männer an Land suchen, um sie einer gerechten Strafe zuzuführen.

 

Aber an Land entwickeln sich die Dinge sowohl für Tom, als auch für Matthew und Molly anders als sie es erwartet haben. Tom gerät schon kurze Zeit nach seiner Ankunft bei einem Treffen in Gefangenschaft, wo er der wunderschönen Aureliana begegnet, in die er sich Hals über Kopf verliebt. Allerdings beginnt auch der Sturm der britischen Truppen auf Buenos Aires und die Träume und Hoffnungen der Akteure werden auf harte Proben gestellt.

 

Schreibstil & Artwork:

Kindheit und Jugend verbrachte der am 15.06.1927 in Rimini geborene Ugo Eugenio Pratt, der später unter seinem Künstlernamen „Hugo Pratt“ Ruhm erlangen sollte, in Venedig und Abessinien, dem heutigen Äthiopien. Nach dem Krieg begann Pratt in Venedig ein Kunststudium an der Akademie der Schönen Künste und gründete mit einigen Freunden das Comic-Magazin „Asso di Picche" (deutsch: Pik-As), das sich recht erfolgreich bemühte, den US-amerikanischen Adventure-Strip im Stile von Will Eisner oder Milton Caniff zu kopieren. Bereits zwei Jahre später wurde ihnen nicht zuletzt wegen des kommerziellen Erfolges angeboten, die Zeitschrift in Argentinien zu vermarkten. So zog Pratt 1949 nach Südamerika, wo er eine Fülle von unterschiedlichen Abenteuerserien gestaltete und später sogar als Lehrer an der neugegründeten „Escuela Panamericana de Arte" Grundbegriffe des Comic-Zeichnens lehrte, bis es ihn 1959 wieder zurück nach Europa verschlug, um in London zu arbeiten. Dort hielt es ihn allerdings nicht lange und er kam 1962 letztlich nach Venedig zurück.

 

Als zwischenzeitlich international etablierter Zeichner kreierte Pratt 1967 für die Zeitschrift „Sgt. Kirk" des Genueser Verlegers Florenzo Ivaldi den Comic „Die Südseeballade". Ivaldi – ein großer Fan von Pratt – schuf mit „Sgt. Kirk“ eine Zeitschrift, die ausschließlich dazu bestimmt war, die Arbeiten von Pratt zu publizieren – eine nicht nur für damalige Verhältnisse einzigartige Entscheidung eines Verlegers. In der Geschichte „Die Südseeballade" sollte dann auch zum ersten Mal die Figur des Corto Maltese auftauchen, der ab 1970 Held einer eigenen Serie wurde und den späteren Weltruhm von Pratt mitbegründete.

 

Pratts zweite große und bekannte Serie in diesen Jahren war „Die Wüstenskorpione". Neben der kontinuierlichen Arbeit an „Corto Maltese" arbeitete Pratt in der zweiten Hälfte der 70er-Jahre vor allem für Bonellis Sammelreihe „Ein Mann - ein Abenteuer", für die er insgesamt vier albumlange Geschichten schrieb und zeichnete. 1984 zog Pratt nach Grandvaux bei Lausanne. Hier widmete er sich neben der Pflege seiner erfolgreichen Serien insbesondere der Kolorierung älterer, schwarzweißer Arbeiten - vor allem albumlanger Erzählungen aus der Geschichte, wie „Cato Zulu" (eine Gestalt aus dem Südafrika der Kolonial-Zeit) oder die von Saint-Exupéry in dem Comic „Sein letzter Flug“ (das auch sein letztes Werk werden sollte). Am 20.08.1995 erlag Hugo Pratt in Pully (Schweiz) einem Krebsleiden.

 

In Zusammenarbeit mit Manara erschien zwischen 1991 und 1994 in mehreren Teilen des Magazins „Il Grifo“ die Geschichte von „El Gaucho“. Mit seinem Szenario taucht Pratt ein in die Zeit der englischen Besatzung von Buenos Aires im Jahre 1806 und zeigt den Zusammenstoß verschiedener Zivilisationen, die Pratt mit Leidenschaft verfolgte. In diese Zeit schickt er seine Akteure und versteht es durch seine Erzähltechnik nicht nur die vorherrschende alltägliche Gewalt auf allen gesellschaftlichen Ebenen zu schildern, sondern dem Leser auch ein authentisches Stück Zeitgeschichte näher zu bringen. Dabei wird die Erzählung um „El Gaucho" durch den Tod Pratts wohl für immer unvollendet bleiben, während seine Zusammenarbeit mit Manara an „Ein indianischer Sommer" eine in sich geschlossene Geschichte bietet.

 

Die Inspiration für das Szenario basiert auf historischen Tatsachen, die Pratt als Erzähler geschickt aufnimmt und weitestgehend dem Kontext anpasst. Pratt selbst lag die Geschichte von „El Gaucho“ so sehr am Herzen, wie eine Unmenge von Skizzen mit Personen und Szenen dokumentieren, die er an Manara geschickt hat. Dennoch geht mit der Veröffentlichung dieser Geschichte auch das langsame Verschwinden der Autorenmagazine einher und so darf man diesen Band getrost als eine der letzten großen Veröffentlichungen in diesem Genre nennen.

 

Milo (eigentlich: Maurilio) Manara wurde am 12.09.1945 in Lüsen, einem Ort nahe Bozen in Südtirol, geboren und gehört heute unumstritten zu den renommiertesten Comic-Künstlern weltweit.

Als Zeichner für Comics trat Manara erst in den späten 60er Jahren in Erscheinung. Mit regelmäßigen Zeichnungen für zwei in Italien sehr populäre, zum Teil pornografische Comicmagazine des Genres „fumetti neri“ (ital.; zu Deutsch „schwarze Comics“) finanzierte er zwischen 1968 und 1971 sein Architekturstudium an der Universität in Venedig, wo er unter anderem aber auch Plakate für ein maoistisches Künstlerkollektiv mit dem Namen „Miraculo“ anfertigte. Sein Erstlingswerk „Genius“ aus dem Jahr 1969 ist der erste Schritt in eine außergewöhnliche Comic-Karriere. Zwischen 1971 und 1973 zeichnete er die billig produzierte erotische Piratenstory „Jolanda de Almaviva“ und fertigte etliche Comicstrips für die italienischen Magazine „Telerompo“ und „Corriere dei Ragazzi“.

 

Der Durchbruch gelang Manara 1978 mit seiner Comicadaption des chinesischen Literaturklassikers „Der Affenkönig“, dem, in der Zeit von 1978 bis 1987, die nach den Vorlagen von Hugo Pratt und Federico Fellini geschaffene Reihe um die Figur des Giuseppe Bergmann folgte. Sein besonderes Faible für Erotik (gemischt mit gediegenem Humor) führte Manara 1983 in der Reihe „Click!“ fort. Weitere internationale Erfolge stellten sich allerdings auch ein – so erschienen beispielsweise „Mann aus Papier“, „Der Schneemensch“, „Candid Camera“ oder aber Ende der 90er Jahre „Kamasutra“. Zu den Höhepunkten seines Schaffens im Bereich des anspruchsvollen erotischen Comics dürften zweifelsohne „Außer Kontrolle“ („Il gioco“), veröffentlicht 1983, und „Der Duft des Unsichtbaren“ („Il profumo dell'invisibile“) gehören.

 

In den 80er-Jahren begann Manara damit, verstärkt mit anderen großen Künstlern wie Hugo Pratt, Federico Fellini oder aber auch Luc Besson zusammenzuarbeiten. Gemeinsam mit Pratt schuf er die beiden Bände „Ein indianischer Sommer“ und „El Gaucho“, mit Fellini entstanden „Die Reise nach Tulum“ und „Die Reise des G. Mastorna“ (beide Geschichten sind in Band 1 der Werkausgabe von Panini erschienen). Doch Manara zeigt sich auch in anderen Genres recht umtriebig. So schuf er mit dem französischen Regisseur Luc Besson zwei Werbespots für die Parfum-Marke „Chanel No. 5“, arbeitete an der Visualisierung verschiedener Spots für Autofirmen mit oder schuf CD-Cover für diverse Interpreten.

 

Doch seine Leidenschaft für das Medium Comic ist ungebrochen. Zu seinen letzten Arbeiten gehört die gemeinsam mit dem Szenaristen Alexandro Jodorowsky entstandene historische Comic-Reihe „Die Borgia“, die zwischen 2006 und 2010 auf deutsch bei „Kult Editionen“ erschien und der Band „X-Men – Frauen auf der Flucht“, den er mit Chris Claremont, dem wichtigsten und einflussreichsten Autor in der Geschichte von Marvels X-Men, schuf.

 

Frauen auf Schiffen gab es, seit es Schiffe gibt. Sie fuhren als Passagiere, Mätressen, als Huren, als verkleidete Männer, ja selbst als Piratinnen mit. Dank der Anwesenheit von „irischen Huren“ auf dem Schiff „Encounter“ und deren Einsatz zum Wohl der Offiziere bietet die Geschichte von „El Gaucho“ viel Platz für Manara sich in seinem liebsten Genre künstlerisch auszutoben. Dabei geht es aber nicht darum, nackte weibliche Körper zur Schau zu stellen, sondern erneut zeigt Manara starke Frauen, wie die irische Prostituierte Molly, die sich ihrer niederen Herkunft bewusst ist und dennoch ihre Hoffnung nicht aufgibt, irgendwann ihrem bitteren Los als Hure zu entkommen und ein anderes Leben zu beginnen. Auf der anderen Seite gibt es die wohlbehütete Aureliana, die im Laufe der Handlung Opfer einer Vergewaltigung durch einen Soldaten wird. Eine drastische und geradezu ekelerregende Darstellung, an die später im Verlauf der Erzählung noch einmal angeknüpft wird, als Molly und Aureliana im gleichen Wagen sitzen und sich unterhalten. Während Aureliana von den ihr widerfahrenen Geschehnissen traumatisiert ist, kann Molly, die in ihrem Leben bereits weitaus schlimmeres erlebt hat, nur müde über solche „Kleinigkeiten“ lächeln.

 

Manara zeichnet „El Gaucho“ mit großer Liebe zum Detail und lässt durch seine Bilder eine längst vergessene Epoche der Geschichte wiederauferstehen. Dabei besticht er nicht nur durch die hervorragende Darstellung der britischen Schiffe, sondern auch durch die südamerikanische Landschaft, die in seinen realistisch gehaltenen Zeichnungen immer wieder mit sicherem und schwungvollem Strich ausgeführt wird. Sein markant-präzisen Strich zeichnet natürlich auch die Darstellung seiner weiblichen Akteure aus, deren Darstellung von Erotik bis hin zu eher drastischen Szenen reicht. Wie bereits in anderen Rezensionen dieser Reihe angemerkt, so sind Frauen bei Manara immer wieder starke und selbstbewusste Menschen, die er nicht nur in ihrer vollen Weiblichkeit darstellt, sondern auch im Gegensatz zu ihren männlichen Gegenspielern als wesentlich reifer und klüger darstellt.

 

Qualität, Ausstattung & Übersetzung:

Auch dieser Band der Werkausgabe präsentiert sich als qualitativ hochwertige Ausgabe, die als gebundene Hardcoverausgabe nebst Schutzumschlag und einem einwandfreien Druckbild zu überzeugen weiß. Das verwendete Hochglanzpapier tut sein Übriges dazu, kann aber je nach Lichtverhältnissen etwas störend beim lesen sein. Auch in diesem Band wurde wiederum gänzlich auf eine Seitennummerierung verzichtet, was allerdings dem Lesegenuss keinerlei Abbruch tut. Wer kein Interesse an dem Schutzumschlag hat, kann auch Vorlieb mit dem geschmackvoll rot gehaltenen Hochglanzeinband nehmen, den sowohl auf der Vorder- als auch auf der Rückseite die für Manara „typischen“ Frauen zieren.

In Sachen Ausstattung gibt es im Schutzumschlag einen kurzen Lebenslauf von Manara, als auch eine knappe Inhaltsangabe zu „El Gaucho“. Ansonsten gibt es wiederum ein überaus kenntnisreiches und lesenswertes Vorwort, nebst einigen zusätzlichen Illustrationen, welches die Entstehung und die Hintergründe von „El Gaucho“ beleuchtet und dabei sowohl auf Manara, als auch Hugo Pratt eingeht.

 

Fazit:

Gewalt ist zur Errichtung, zur Aufrechterhaltung aber auch zur Beendigung von Kolonialherrschaft nötig. Innerhalb der Gewaltgeschichte Europas sind die Kolonialkriege eine erst in letzter Zeit genauer beachtete Traditionslinie. So verschieden diese Kriege motiviert waren und so unterschiedlich sie verliefen, sie weisen Gemeinsamkeiten auf, die für Kolonialkriege typisch sind: Den Charakter des Raubkrieges, in dem es um Bodenschätze, landwirtschaftliche Nutzflächen, Handelsplätze oder strategische Positionen geht. Eine Verwischung der Grenzen zwischen Zivilisten und Kombattanten und Wellen militärischer Gewalt, deren Hauptwucht Zivilisten - Männer, Frauen, Kinder - trifft. Eine Politik der verbrannten Erde, die Vertreibung ganzer Völkerschaften und die Verwendung einheimischer Hilfstruppen.

 

Hugo Pratt nimmt sich dieses Themas an und präsentiert die Kulisse des Krieges als Hintergrund für seinen Bildungsroman, in dem der noch junge Trommler Tom zur zentralen Hauptfigur wird. Allerdings thematisiert Pratt nicht nur die Entwicklung von Tom, sondern nimmt sich auch der beiden anderen wichtigen Charaktere, Matthew und Molly an, die wie Tom ebenfalls als „Wanderer zwischen den Welten“ agieren. Auf der einen Seite sind es die Zwänge des alten Europas, welche sie hinter sich lassen wollen, andererseits befinden sie sich in einem fremden Land, welches selbst von der Kolonialherrschaft gezeichnet ist und die vermeintliche Befreiung durch die Engländer nur ein Wechsel der amtierenden Machthaber ist.

 

Wenn man sich den alten Mann zu Beginn der Geschichte ins Gedächtnis ruft, bei dem es sich um den gealterten Tom handelt, hat dieser wesentlich mehr erlebt, als nur den Einmarsch der britischen Truppen in Buenos Aires. Doch die von Pratt verwendeten Elemente, quasi eine Biografie von Tom zu präsentieren, blieben leider unvollendet.

 

Eine ungewöhnliche Geschichte vor dem Hintergrund eines seltsamen Krieges, der fernab von Europa tobt und dessen Bilder von Manara in beeindruckender Weise mit kantigen Charakteren, zum Teil überbordender Erotik und drastischen Darstellungen versehen wurde. Eine absolute Leseempfehlung eines Duos, das sein Handwerk versteht und die in diesem Band zur Höchstform auflaufen.