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Univerne 1 - Paname
Bewertung:
(3.9)
Von: Jörg Deutesfeld
Alias: Debaser
Am: 15.08.2013
Autor:Jean-David Morvan (Autor) und Alexandre Nesmo (Zeichner)
Übersetzer:Tanja Krämling
Typ:Comic / Graphic Novel
VerlagSplitter Verlag
ISBN/ASIN:978-3-86869-519-9
Inhalt:48 Seiten, Hardcover Großformat
Preis:13,80 EUR
Sprache:Deutsch

Inhalt:

Alternativweltgeschichten sind bei weitem keine Erfindung der Neuzeit und immer wieder begegnet man solchen Gedankenspielen, deren Handlung in einer uns historisch bekannten Welt spielt, in welcher der Lauf der Weltgeschichte aber irgendwann von dem uns bekannten abweicht.

 

So auch in dem Szenario von Jean-David Morvan, dessen Handlung an die bürgerlich-demokratische Februarrevolution von 1848 in Frankreich anknüpft, welche die Herrschaft des ursprünglich eher liberalen „Bürgerkönigs“ Louis-Philippe von Orléans beendete und zur Ausrufung der Zweiten französischen Republik führte. An deren Spitze wurde im weiteren Verlauf der Revolution, nach dem niedergeschlagenen sozialrevolutionären Juniaufstand, der Neffe des ehemaligen Kaisers Napoléon Bonaparte, Louis Napoléon Bonaparte, im Dezember 1848 zum Staatspräsidenten gewählt. Am 2. Dezember 1851 gelangte jedoch der aus einer Volkswahl hervorgegangene Präsident Louis-Napoléon durch einen Staatsstreich endgültig an die Macht, die ein Jahr darauf in das Zweite Kaiserreich mündete.

 

Im Mai 1849 wurde der Schriftsteller Victor Hugo in die französische Nationalversammlung gewählt, der an die Republik als einzige Regierungsform glaubte, die fortschrittlichen Ideen Raum bot. Victor Hugo war nach der Machtergreifung allerdings gezwungen, Frankreich zu verlassen, da mit dem Eintritt in den Widerstandsausschuss ein Preis auf seinen Kopf ausgesetzt wurde.

 

Hier setzt die Handlung des Szenarios ein und begleitet Victor Hugo, dessen Familie und den Verleger Pierre-Jules Hetzel auf der Flucht durch das kalte und winterliche Paris im Jahre 1851 in Richtung Bahnhof, von wo sie sich aus nach Belgien absetzen wollen. Während Hugo und seiner Familie die Flucht glückt, stirbt Hetzel auf tragische Weise und wird somit später nie die Werke von Jules Vernes veröffentlichen können.

 

Wegen diesem vermeintlich „unbedeutenden“ nächtlichen Ereignis nimmt die Geschichte von Frankreich in den kommenden Jahrzehnten einen gänzlich anderen Verlauf und der Leser findet sich im Jahre 1900 wieder und begleitet die Journalistin Juliette Henin, die als Redakteurin der feministischen Zeitschrift „La Fronde“ (Der Aufstand) arbeitet auf ihrem ziemlich chaotischen Weg durch das futuristisch anmutenden Paris ins Gefängnis La Sante. Hier soll Juliette auf Madam Fraysse de Viane treffen, die Frau von Jules Verne. Unter dem Vorwand Juliette von dem Leben auf der Insel Lincoln, gemeinhin „Univerne“ genannt, zu erzählen, wo ihr Ehemann unter dem Namen Nemo mit seinen technischen Errungenschaften die ideale Stadt erbaut hat, verfolgt Madam Fraysse de Viane aber noch ganz andere Pläne.

Die von Jules Verne und seinen Helfern erschaffene Insel entwickelt sich allerdings rasch zu einer Bedrohung für andere Staaten, so das eine Koalition aus verschiedenen Großmächten Univerne den Krieg erklärte und es letztlich schaffte die Insel einzunehmen. Hintergründe dieses Krieges werden allerdings noch nicht genannt, aber der Leser ungemein neugierig gemacht. Juliette hat zu diesem Zeitpunkt allerdings keine Ahnung, das ihr Madam Fraysse de Viane bei der Verabschiedung heimlich einen Datenträger zusteckt.

 

Am nächsten Tag nimmt Juliett Henin als Journalistin an einer Besichtigung der Weltausstellung teil, deren Eröffnungsfeier abends ist und in Begleitung von zahlreichen anderen Journalisten „mit Machoschnäuzern und gönnerhaften Lächeln“ bekommt sie einen Einblick in die prachtvollen Pavillons und Gebäude, die anlässlich der Ausstellung aufgebaut wurden und sich nicht nur dem Gartenbau, der Landwirtschaft und den schönen Künsten widmen, sondern auch die neuesten technischen Errungenschaften darbieten. Höhepunkt der Tour ist der Auftritt des technischen Genies Nicola Tesla, der sich nach dem Krieg um Univerne von Nemo losgesagt und die Seiten gewechselt hat. Gemeinsam mit seinem Gehilfen Thomas Edison präsentiert er „Teslavision“, eine Art von Fernsehprogramm, welches sich Radiowellen bedient und bald überall Verbreitung finden soll.

 

Während Juliette nach diesem spektakulären Auftritt mehr oder weniger genervt die Flucht ergreift, um den Rest des Abends mit einem gutaussehenden Journalisten in der Freien Kommune von Montmatre zu verbringen (wo sie unter anderem Ernest Hemingway begegnet), kommt es zu einem Blitzeinschlag in den Eiffelturm, der einige seltsame Vorgänge nach sich zieht und plötzlich sehen sich Juliette und ihr männlicher Begleiter einer Bedrohung von Maschinenmenschen ausgesetzt. Doch hier sei nicht zuviel verraten in diesem aufregenden Reigen rund um die jugendlich-charmante Journalistin.

Schreibstil & Artwork:

Der französische Comicautor Jean-David Morvan wurde am 28.11.1969 in Reims geboren. Nach seinem Schulabschluss studierte er ab 1989 in Brüssel an der Hochschule für bildende Künste Comiczeichnen und spezialisierte sich zunächst auf das Zeichnen von Szenarien. Bereits 1993 war er bei seinem ersten Album „eflets perdus“ (Diable à quatre) nur noch als Autor tätig, die Zeichnungen stammten von Sylvain Savoia. 1994 veröffentlichte der Verlag Zenda „Horde“ mit Zeichnungen von J.J. Whamo. Im gleichen Jahr begann er mit Sylvain Savoia und Philippe Buchet an den Arbeiten für die Serie „Nomad“. In den kommenden Jahren folgten eine ganze Reihe von One-Shots und die beiden Serien „Troll“ und „Sillage“.

 

Gemeinsam mit José Luis Munuera arbeitete er für die neuen Abenteuer von Spirou und Fantasio, die seit 2004 nach mehrjähriger Pause bei Dupuis erscheinen, zusammen. Die Geschichten sind im traditionellen Semi-Funny-Stil gehalten, der deutliche stilistische Anleihen bei Mangas aufweist. In kommerzieller Hinsicht schien dieses Konzept aufzugehen: „Paris-sous-Seine“, das erste Album von Morvan und Munuera, war laut Verlag das bestverkaufte in der Geschichte der Serie.

 

Seit 2010 ist Morvan als Autor der Comicreihe „Wakfu Heroes“ zur MMORPG-Serie Wakfu tätig. Neben ihm arbeiten Tot und Adrián an den Comics, die seit 2010 auf Deutsch bei Tokyopop erscheinen.

 

Was Morvan sich in seinem Szenario alles einfallen lässt, verdient auf jeden Fall Respekt. Es sind nicht nur kleine Änderungen, die er am Lauf der Welt vornimmt, sondern eine ganze Fülle von historisch verbürgten Ereignissen, die er in einen gänzlich neuen Kontext vor einer absolut phantastischen Kulisse stellt. Seine Protagonisten Juliette Henin besitzt dabei einen absolut überzeugenden Charme als emanzipierte Frau in einer nach wie vor von Männern dominierten Gesellschaft, die bei aller Hektik und etlichen Wortgefechten sehr genau weiß, was sie will.

 

Natürlich bleiben in einem so groß angelegten Szenario zahlreiche Fragen zunächst noch unbeantwortet und als Leser muss man sich immer wieder wundern, welche Dinge real sind oder einfach nur aus ihrem historischen Kontext gerissen wurden, um dann neu arrangiert zu werden. Auch bleiben die Hintergründe um Nemo und seine Insel Univerne weitestgehend im Dunkeln – hier gibt es einige wenige Hinweise, die auf jeden Fall neugierig auf den kompletten Hintergrund der Geschehnisse machen.

 

Alexandre Nesmo wurde am 17.10.1978 in Berlin geboren. Geboren in einer Familie, in der scheinbar alle Mitglieder eine künstlerische Ader haben, konnte sich Alexander Nesme Nesmo ausrechnen als einfacher Künstler wohl nie seine Miete zahlen zu können. Also wandte er sich zumindest der kommerzielle Kunst und Illustration zu. Seine Bemühungen um kommerziellen Erfolg machen sich schließlich 2003 bezahlt, als er den Entwurf einer Kurzgeschichte, die Roger Seiter geschrieben hatte, an den Verlag Humanoïdes Associés schickte und die später unter dem Titel „Jack Bygrave“ in der Ausgabe 140 von „Métal Hurlant“ veröffentlicht wurde.

 

Seine dunklen Inspirationen und exotischen Einfälle finden ein Echo in der Person von Jean-David Morvan, den er zufällig in einem Internet-Forum kennen lernt. Aus ihrem ersten Treffen entsteht das Projekt „Ronces“, eine Reihe, die im Oktober 2005 beim Verlag Humanoïdes Associés veröffentlicht wird und für dessen ersten Band „Racines Electriques“ er 2006 den Preis der Stadt Sérignan gewinnt.

 

Auch wenn Nesmo einen klassischen Seitenaufbau pflegt, so sind doch seine Bildfolgen zum Teil in unterschiedlichen Formaten angeordnet in denen er sich mit gänzlich unterschiedlichen Einstellungen der jeweiligen Handlung annimmt und dabei dem Leser mannigfache Perspektiven unterschiedlichen Einstellungen bietet. Nesmo ist aber nicht nur im technischen Aufbau versiert – auch die Gestaltung seiner semi-realistischen Figuren wirkt überzeugend, insbesondere wenn dynamische Sequenzen wie Verfolgungsjagden oder Kämpfe die Panels einnehmen.

 

Was beeindruckt sind auf jeden Fall die zahlreichen, aufwendig gestalteten Ansichten von Paris, wie man es in dieser Form vielleicht noch nicht gesehen hat, es allerdings vor dem Hintergrund des Szenarios für absolut glaubwürdig und überzeugend hält. Hier zeigt Nesmo absolute Stärke in der visuellen Gestaltung der Ideen von Morvan, wenn er Juliette in der U-Bahn zeigt oder ihren Blick über die gewaltige Szenerie der morgendliche Stadt schweifen lässt. Allerdings ist die Koloration irgendwie nicht richtig passend, selbst wenn die Farben stimmig erscheinen. Hier sind Kontraste stellenweise zu hart und ein manchmal etwas härterer Strich hätte vielleicht geholfen.

Fazit:

Der erste Band der Reihe „Univerne“ gestaltet sich als vielversprechender Einstieg in eine auf scheinbar drei Bände konzipierte Reihe. Dabei dürfte der Aspekt „Steampunk“ sicherlich eine große Rolle spielen, feiert dieser in unterschiedlichsten Ausformungen doch im Moment sein großes Comeback und bekommt von zahlreichen Autoren in unterschiedlichen Medien neues Leben eingehaucht.

 

Auch wenn es unterm Strich zeichnerisch keine grandios neue Entdeckung zu vermelden gibt, so überzeugen doch sowohl Szenario als auch die Gestaltung des Bandes, da der Splitter Verlag in Sachen Qualität seinem Leser wiederum einen solide verarbeiteten Hardcoverband liefert, der durch seine gute Druckqualität überzeugen kann. Die gelungene Übersetzung aus dem französischen stammt von Tanja Krämling und lässt sich überaus angenehm lesen.