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Reisende im Wind 1 - Blinde Passagiere
Bewertung:
(4.0)
Von: Jörg Deutesfeld
Alias: Debaser
Am: 21.10.2009
Autor:Autor und Zeichner: François Bourgeon
Übersetzer:Delia Wüllner-Schulz
Typ:Graphic Novel – History
VerlagSplitter Verlag
ISBN/ASIN:978-3868690743
Inhalt:48 Seiten, Hardcover
Preis:14,80 EUR
Sprache:Deutsch

In den 80er Jahren boomte der Historien-Comic wie keine andere Sparte in diesem Genre und beherrschte den franko-belgischen Comic, wobei es nicht zuletzt die Reihe „Reisende im Wind“ von Francois Bourgeon war, die maßgeblich mitverantwortlich für diesen Aufschwung war.

Beim Splitter-Verlag startet die Neuauflage dieser Serie des französischen Comic-Autors und bringt nicht nur die fünf Alben des Ursprungszyklus aus den Jahren 1979 – 1984 wieder in die Läden, sondern auch die beiden Bände des neuen, zweiten Zyklus in deutscher Erstveröffentlichung.

 

Inhalt (Achtung – Spoiler!)

Angesiedelt in der Zeit des 18. Jahrhunderts beginnt der erste Band „Blinde Passagiere“ auf dem französischen Segelschiff Foudroyant. Der Matrose Hoël Tragan entdeckt bei einer Rettungsaktion von einem Beiboot aus, dass sich scheinbar zwei weibliche Passagiere an Bord des Schiffes befinden, von denen bislang eigentlich keine Rede war. Seine Neugierde ist geweckt und so versucht er heimlich mehr über diese Personen in Erfahrung zu bringen. Doch Hoël wird bei seinen Nachforschungen im Offizierstrakt, in dem die beiden Frauen untergebracht sind, von Wachposten entdeckt und festgenommen. Die Regeln an Bord des Schiffes sind streng und so soll Hoël für sein ungebührliches Verhalten kielgeholt werden, selbst wenn diese Bestrafung gesetzlich längst nicht mehr erlaubt ist und für den Verurteilten mehr oder weniger den sicheren Tod bedeutet.

 

Doch das Schicksal meint es gut mit Hoël, da eine der beiden Frauen, sich in Männerverkleidung Zutritt zum Gefangenentrakt verschafft und Hoël anbietet ihn zu retten, falls dieser sich im Gegenzug bereit erklärt, ihr zu Diensten zu sein, wenn sie es verlangt. Und tatsächlich schafft es die junge Frau namens Isabeau Hoël vor dem Tod zu retten.

 

Nach dieser erfolgreichen Rettung gelangt Isabeau nachts in den Ausguck, in dem Hoël Wache hält und erzählt diesem die wahre Geschichte ihres Lebens:

Ihr wirklicher Name ist Agnes de Roselande und sie wuchs als Adelige gemeinsam mit einem Waisenkind namens Isabeau auf. Da sie sich als Kinder sehr ähnlich sahen, tauschten sie häufig ihre Kleider und damit auch ihre Rollen, um sich einen Spaß zu erlauben. Einen solchen Spaß machten sie sich auch mit dem Vater von Agnes, der diese seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte. Durch diesen Tausch musste die echte Agnes die nächsten Jahre ihres Lebens unfreiwillig in einem Kloster verbringen, während Isabeau als Agnes in die bessere Gesellschaft eingeführt wurde und keine Lust mehr hatte, das falsche Spiel aufzugeben.

Nach vielen Jahren treffen die beiden, mittlerweile zu Frauen herangewachsenen Kindheitsgefährtinnen wieder aufeinander, da die echte Agnes als Gesellschafterin ihrer Doppelgängerin Verwendung finden soll. In dieser Position schafft es die echte Agnes Isabeau in eine sexuelle als auch psychische Abhängigkeit zu sich zu bringen, die man schlechtweg nur als Hörigkeit bezeichnen kann.

 

Nach einer abendlichen Gesellschaft hofft Agnes das Missverständnis bei ihrem Bruder, dem Kapitän Benoît de Roselande, aufzuklären und in ihm einen Fürsprecher zu finden – doch sie hat sich getäuscht. Gemeinsam mit einigen anderen Offizieren missbraucht er seine eigene Schwester, ohne auch nur im Geringsten etwas hiervon ahnen zu können. Für diese Tat schwört sie Rache an ihrem Peiniger zu nehmen und so gelingt es ihr gemeinsam mit der falschen Agnes an Bord der Foudroyant zu gelangen, auf dem ihr Bruder Kapitän ist. Hoël soll für sie nun Mittel zum Zweck werden und ihr helfen, ihren Bruder für die erlittene Schande zu töten.

 

Die Gelegenheit scheint günstig, als die Foudroyant in eine Seeschlacht mit britischen Schiffen gerät. Hoël soll sich im anstehenden Trubel des Kampfes ein Gewehr besorgen und Benoît de Roselande erschießen. Doch es kommt anders, da Agnes während des Kampfes verunglückt und mit ihren letzten Atemzügen Benoît über ihre wahre Identität aufklärt. Benoît wird schlagartig klar, dass er seine eigene Schwester vergewaltigt hat und ein unsäglicher Skandal über die Familie käme, sollte dies publik werden. Seine einzige Möglichkeit aus diesem Ungemach besteht darin, seine Schwester zu töten. Bei seinem Versuch seine eigene Schwester umzubringen, schafft es Hoël seine Freundin zu retten und Benoît zu töten. Er selbst wird in diesem Kampf angeschossen und kann sich letztlich nur noch durch einen Sprung ins Meer zu retten.

 

Als Hoël seine Augen wieder aufschlägt, findet er sich gemeinsam mit einem Offizier namens Michel de Saint-Quentin und Isabeau auf einem kleinen Eiland wieder. Doch die Freude über die eigene Rettung hält nicht lange vor, da ein britisches Schiff sich bereits nähert und die weitere Reise einem ungewissen Schicksal entgegen geht.

 

Schreibstil & Artwork:

Der französische Comiczeichner François Bourgeon wurde am 05.07.1945 in Paris geboren und an der Pariser Ecole des Métiers d'Art zum Glasmaler ausgebildet. Bereits 1971 musste er allerdings seinen Beruf aufgeben, da die allgemein schlechte Auftragslage in seinem Metier nicht für seinen Lebensunterhalt reichte. Anfang der 70er Jahre gelangte er eher zufällig in Kontakt mit der Jugendzeitschrift „Lisette“, für die er 1972 die Serie „L´Ennemie vient de la mer“ erschuf, die mit ihren stark schematisierten Zeichenformen noch deutlich Bourgeons Prägung durch die Glasmalerei erkennen lässt. Nach dem Konkurs von „Lisette“ folgten weitere kleinere Arbeiten für Magazine wie „Fripunet“, „J2“ und „Pif Gadget“.

 

Einen ersten, wenngleich auch kurzen Ausflug ins Mittelalter unternimmt Bourgeon bereits 1973 mit „Brunelle et Colin“ (dt. „Britta und Colin“, Carlsen). Die von Robert Génin für das Comicmagazin „Djinn“ geschriebene Serie um eine tollkühne Prinzessin und ihren Pagen gibt er allerdings bereits nach zwei Bänden wieder auf, die Génin dann aber ab 1982 mit Didier Convard fortsetzt.

 

Im Jahr 1979 gelingt Bourgeon mit dem historischen Zyklus „Reisende im Wind“ der Durchbruch in der frankobelgischen Comicszene. Dies allerdings nicht unbedingt durch seinen Zeichenstil, sondern vielmehr durch seine Neuerungen auf dem Gebiet der Bilddramaturgie des Comics.

 

Als Bourgeon Anfang der 70er Jahre die Comic-Szene betrat, war die Seitenaufteilung des Mediums noch weitgehend klassisch und konventionell geprägt: Die einzelnen Panels folgten linear aufeinander und bildeten ein starres Gerüst. Bourgeon hob diese Beschränkung auf und wechselte die Panelgröße je nach Verlauf und Absicht seiner Erzählung. So fügt er beispielsweise kleinere Detailbilder in größere Panoramen ein und erzielt so mitunter Effekte, wie sie der Leser aus der Erzählsprache der Filmkunst kennt. Doch nicht nur die visuelle Erzählweise von Bourgeon war für die damalige Comic-Kultur wegweisend, sondern auch die Entwicklung der Charaktere innerhalb einer Comic-Reihe wie in „Reisende im Wind“, die man bislang in dieser Form nicht kannte.

 

Bourgeon pflegt in „Reisende im Wind“ einen insgesamt sehr realistischen und detaillierten Zeichenstil, wobei er nach eigener Aussage oft auf der Grundlage von historischen Studien, Landschaften, Technik und Bauwerken arbeitet. Seine nie geschönten oder idealisierten Figuren basieren auf anatomisch genauen Vorgaben, ohne dabei allerdings ins Photorealistische überzugehen.

 

François Bourgeon lebt heute in Cornouaille (Bretagne).

 

Qualität, Ausstattung & Übersetzung

Solide Fadenheftung in gediegener Hardcover-Qualität – das dürfte beim Splitter-Verlag sicherlich noch eine Selbstverständlichkeit sein. Allerdings hat sich das Titelbild im Gegensatz zur Erstausgabe verändert, was jedoch zu verschmerzen ist, da es das Cover der Erstausgabe als „Zugabe“ in Form eines qualitativ hochwertigen und herausnehmbaren Druckes im Band gibt. Zudem soll es für alle 7 Bände der Reihe noch einen passenden Schuber geben.

Natürlich hat sich auch in Sachen Drucktechnik seit den 80er Jahren einiges getan und so sehen die Farben meines Erachtens nach frischer und irgendwie freundlicher aus. Zudem hat man versucht, das Original-Lettering der französischen Ausgabe zu übernehmen, wobei es auch an der Übersetzung von Delia Wüllner-Schulz nichts zu bemängeln gibt. Vielleicht hätte man sich gerne noch das eine oder andere Extra für diese neue Auflage gewünscht, doch da ist leider Fehlanzeige.

 

Fazit

Die Neuauflage der Reihe „Reisende im Wind“ durch den Splitter-Verlag kann nicht hoch genug gelobt werden, da doch nun nach vielen Jahren endlich wieder eine vollständige Edition dieser Reihe vorgelegt werden soll.

Sicherlich muss man die Zeichnungen von François Bourgeon im Kontext der 80er Jahre sehen, bevor man sich als neugieriger Leser wundert, was letztlich den Ruhm dieser Reihe ausmacht. Wie bereits ausgeführt, war der vollkommen neuartige Umgang mit den Panels im Bildaufbau geradezu bahnbrechend, auch wenn Bourgeon sicherlich nicht der einzige Zeichner war, der zu dieser Zeit mit dem Layout von Comics experimentierte, und sein Zeichenstil alleine sich nicht unbedingt als absolut überragend hervorhebt.

 

Die von Bourgeon vorgestellten Figuren atmen in ihrer altmodischen Darstellung allesamt die Luft der frühen 80er Jahre und wirken in ihrer Ausführung für heutige Verhältnisse zum Teil sogar etwas holprig. Dennoch versprühen sie einen großen Charme, an dem sich manch glatt und perfekt inszenierte Figur der Neuzeit eine gehörige Scheibe abschneiden könnte.

 

Wer „Reisende im Wind“ noch nicht kennt, sollte sich diese - nicht nur für damalige Verhältnisse bahnbrechende - Geschichte nicht entgehen lassen und einen „echten Klassiker“ des Historien-Comics für sich entdecken. Ein echter Leckerbissen für einen ausgedehnten, ruhigen Leseabend, der sicherlich nicht enttäuschen wird!