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Reisende im Wind 6.1 - Das Mädchen von Bois Caiman
Bewertung:
(4.0)
Von: Jörg Deutesfeld
Alias: Debaser
Am: 04.12.2009
Autor:Autor und Zeichner: François Bourgeon
Übersetzer:Tanja Krämling
Typ:Graphic Novel – History
VerlagSplitter Verlag
ISBN/ASIN:978-3-86869-079-8
Inhalt:88 Seiten, großformatiges Hardcover
Preis:17,80 EUR
Sprache:Deutsch

Der Zyklus „Reisende im Wind“ von Francois Bourgeon erschien erstmals in der Zeit von 1979 bis 1985 und sollte sich zu einem Meilenstein in der Comic-Landschaft entwickeln. Nach nunmehr fast 25 Jahren schickt sich Bourgeon leise und heimlich an, die noch offenen Enden seiner damaligen Geschichte aufzunehmen und dem Leser eine neue Protagonistin zu präsentieren: Isabeau Murrait, die sich in einer abenteuerlichen Reise anschickt, die mittlerweile 98-jährige Isabeau de Marnaye zu treffen.

 

Inhalt

Im amerikanischen Bürgerkrieg wurde New Orleans (Louisiana) am 28. April 1862 durch eine von Admiral David Glasgow Farragut geleitete Schiffsoperation von der Union kampflos erobert, und seine Truppen besetzten die Stadt. Inmitten der Wirren des tobenden Sezessionskrieges macht sich die mehr oder weniger aus ihrem von Unionstruppen besetzten Haus vertriebene 18-jährige Isabeau Murrait auf den Weg von New Orleans zum Anwesen Lananette nahe Baton Rouge, um dort nicht zuletzt auch ihren Bruder Nano zu treffen. Unterwegs begegnet sie dem französischen Fotografen Coustans, der Zabo fortan auf ihrer abenteuerlichen Reise begleitet, in deren Verlauf sie die feindlichen Linien überqueren, von Freischärlern und Deserteuren angegriffen werden und nur knapp dem Tod entgehen.

 

Als das ungleiche Paar nach den Strapazen der Reise endlich auf dem Anwesen Lananette eintrifft, begegnet Zabo zum ersten Mal ihrer Urgroßmutter Isabeau de Marnaye. Im Laufe der weiteren Geschichte beginnt diese Zabo von ihrer außergewöhnlichen Lebensgeschichte über Kriege, Gefängnisse und die Schrecken der Sklaverei zu berichten und nimmt sie mit auf eine erzählerische Reise in ihre Jugend. Und wenn die beiden Frauen auch auf den ersten Blick 80 Jahre voneinander trennen, so haben sie zumindest eines gemeinsam: ihre Liebe zur Freiheit und Unabhängigkeit!

 

Schreibstil & Artwork:

Der französische Comiczeichner François Bourgeon wurde am 05.07.1945 in Paris geboren und an der Pariser Ecole des Métiers d'Art zum Glasmaler ausgebildet. Bereits 1971 musste er allerdings seinen Beruf aufgeben, da die allgemein schlechte Auftragslage in seinem Metier nicht für seinen Lebensunterhalt reichte. Anfang der 70er Jahre gelangte er eher zufällig in Kontakt mit der Jugendzeitschrift „Lisette“, für die er 1972 die Serie „L´Ennemie vient de la mer“ erschuf, die mit ihren stark schematisierten Zeichenformen noch deutlich Bourgeons Prägung durch die Glasmalerei erkennen ließ. Nach dem Konkurs von „Lisette“ folgten weitere kleinere Arbeiten für Magazine wie „Fripunet“, „J2“ und „Pif Gadget“.

 

Einen ersten, wenngleich auch kurzen Ausflug ins Mittelalter unternimmt Bourgeon bereits 1973 mit „Brunelle et Colin“ (dt. „Britta und Colin“, Carlsen). Die von Robert Génin für das Comicmagazin „Djinn“ geschriebene Serie um eine tollkühne Prinzessin und ihren Pagen gibt er allerdings bereits nach zwei Bänden wieder auf, die Genin dann aber ab 1982 mit Didier Convard fortsetzt.

 

Im Jahr 1979 gelingt Bourgeon mit dem historischen Zyklus „Reisende im Wind“ der Durchbruch in der frankobelgischen Comicszene. Dies allerdings nicht unbedingt durch seinen Zeichenstil, sondern vielmehr durch seine Neuerungen auf dem Gebiet der Bilddramaturgie des Comics.

 

François Bourgeon lebt heute in Cornouaille (Bretagne).

 

Als Bourgeon Anfang der 70er Jahre die Comic-Szene betrat, war die Seitenaufteilung des Mediums noch weitgehend klassisch und konventionell geprägt: Die einzelnen Panels folgten linear aufeinander und bildeten ein starres Gerüst. Bourgeon hob diese Beschränkung auf und wechselte die Panelgröße je nach Verlauf und Absicht seiner Erzählung. So fügte er beispielsweise kleinere Detailbilder in größere Panoramen ein und erzielte so mitunter Effekte, wie sie der Leser aus der Erzählsprache der Filmkunst kennt. Doch nicht nur die visuelle Erzählweise von Bourgeon war für die damalige Comic-Kultur wegweisend, sondern auch die Entwicklung der Charaktere innerhalb einer Comic-Reihe wie in „Reisende im Wind“, die man bislang in dieser Form nicht kannte.

 

Und jetzt? Bourgeon pflegt auch 25 Jahre nach der Veröffentlichung des ersten Bandes von „Reisende im Wind“ einen immer noch insgesamt sehr realistischen und detaillierten Zeichenstil, der jetzt – wahrscheinlich altersgemäß - noch sicherer und eindringlicher wirkt. Nach eigener Aussage gestaltet Bourgeon seine Bilder oft auf der Grundlage von historischen Studien, Landschaften, Technik und Bauwerken. Diese Leidenschaft scheint ungebrochen und zieht den Leser bereits auf der ersten Seite in seinen Bann. Seine nie geschönten oder idealisierten Figuren sind anatomisch genau, ohne dabei allerdings ins Photorealistische überzugehen, und versprühen einen angenehm spröden, etwas antiquierten Charme.

 

Bei aller Liebe zum Detail – und zur Handlung – scheint es mir aber, als würden einige Bilder schlicht und ergreifend fehlen. Einige Übergänge in der Erzählung erschließen sich dem Leser nicht oder nur zum Teil, und man bekommt das Gefühl, entweder habe Bourgeon überhastet gearbeitet oder der Verlag hätte sich im Druck vertan. Das ist zum Teil sehr bedauerlich, da dies mitunter der Stimmung sehr abträglich ist.

 

In der französischen Kolonie Saint-Domingue (dem späteren Haiti) sprach man Französisch und Kreolisch, in Louisiana hauptsächlich Französisch, Spanisch und Englisch. Um so authentisch wie möglich zu sein, sind einige der Dialoge in der entsprechenden „Muttersprache“ der Handelnden, was der Handlung zwar einen großen Charme verleiht, sich aber manchmal auch als hinderlich herausstellt, da sämtliche Übersetzungen (nebst Anmerkungen) sich etwas versteckt am Ende des Bandes befinden und somit des Öfteren hin und her geblättert werden muss. Allerdings muss man zur Ehrenrettung hinzufügen, dass eine Übersetzung in der Fußzeile sicherlich oftmals nicht genügt hätte.

 

„Das Mädchen von Bois-Caiman“ präsentiert sich allerdings nicht nur als zeichnerisch hervorragend umgesetzt, sondern besticht auch durch seine Geschichte. Um Platz für die zum Teil umfangreichen Dialoge zu gewinnen, griff Bourgeon dabei auf einen sehr angenehmen Trick zurück, indem er die Panels etwas höher gestaltete, um mehr Platz für die Dialoge zu gewinnen, bzw. bis hin zu einzelnen Bildern, die komplett gegen Textpassagen ausgetauscht wurden.

 

Qualität, Ausstattung & Übersetzung

Solide Fadenheftung in gediegener Hardcover-Qualität – das dürfte beim Splitter Verlag sicherlich eine Selbstverständlichkeit sein, so wie es auch die gelungene Übersetzung von Tanja Krämling ist, an der es nichts zu bemängeln gibt. Auffallend ist der Umfang von 88 Seiten, der sich weit vom Standard abhebt, aber Bourgeon war schon immer dafür bekannt, sich zunächst als Autor und Künstler mit seiner Geschichte auseinander zu setzen und keine Rücksicht auf drucktechnische Prämissen der Verleger zu nehmen.

 

Fazit

Sicherlich nötigt dieser Comic dem Leser ein Stück weit Wissen über den amerikanischen Bürgerkrieg ab, der als Handlungsrahmen für die Geschichte von Zabo dient, als auch über die Befreiungskämpfe der Sklaven auf Haiti, um die sich im späteren Verlauf die Erzählung der 98-jährigen Isabeau dreht. Aber selbst wenn man sich nicht tiefer mit diesen historischen Details auseinandersetzen möchte, kann man dennoch sehr gut den Geschehnissen folgen.

 

Angeregt durch die Französische Revolution forderten die Weißen der Kolonie Haiti mehr Autonomie von Frankreich, die Mulatten ihre Gleichstellung mit den Weißen und die Sklaven ihre Freiheit. Der 14. August 1791, als sich im Bois-Caïman, dem „Krokodilwald“ in der Nordebene des heutigen Haiti, mehrere Sklaven zu einer Voodoo-Zeremonie trafen, gilt als der Beginn des Aufstandes der Sklaven, der letztlich zur Unabhängigkeit Haitis führte. In beeindruckender Weise schildert Bourgeon dieses Geschehen.

 

Und so reiht sich insgesamt dieser Band mit seinem Titel „Reisende im Wind“ vortrefflich in die bestehende Reihe ein, da erneut das Thema Freiheit und damit vielleicht auch symbolisch „Die Reise im Wind“ aufgegriffen wird. Inhaltlich dürfte es sich sicherlich um ein Schwergewicht in Sachen Geschichte handeln, da Bourgeon die tatsächlichen historischen Hintergründe, sowohl des amerikanischen Bürgerkrieges als auch des Aufstandes auf Haiti, sehr genau recherchiert hat und diese fast schon beiläufig dem Leser in einer packenden Geschichte mit zum Teil beeindruckenden Bildern präsentiert.

 

Der zweiteilige Zyklus „Das Mädchen von Bois-Caiman“ schafft einen interessanten Einblick in die weitere abenteuerliche Jugend von Isabeau de Marnaye und vervollständigt rückblickend die ersten fünf Bände des Zyklus. Zudem hat Bourgeon mit Isabeau Murrait (genannt Zabo) eine würdige Nachfolgerin von Isabeau de Marnaye geschaffen, die dieser mit ihrem Tatendrang und ihrer Abenteuerlust in nichts nachsteht und von der vielleicht für den Leser noch weitere Bände folgen werden.

 

Mich hat der erste Band des neuen zweiteiligen Zyklus von Bourgeon zutiefst beeindruckt und ich kann interessierten Lesern nur raten, diese großartig erzählte und in Szene gesetzte Geschichte für sich selbst zu entdecken – es lohnt sich auf jeden Fall.