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Kingdoms of Kalamar

Kingdoms of Kalamar

David S. Kenzer, Brian Jelke, Steve Johnsson, Lloyd Brown III & Jolly R. Blackburn

Die Welt von Tellene, auf der die Königreiche von Kalamar untergebracht sind, dürfte den meisten D&D-Spielern bislang nicht bekannt sein, da Kenzer & Company bis dato eher durch den Comic Strip ?Knights of the Dinner Table? für Aufsehen sorgte. Dennoch trügt der Schein in diesem Fall, denn die Kingdoms of Kalamar fanden bereits 1994 in der ersten und 1995 in der zweiten Edition ihren Weg in die Regale der Spielehändler. Damals hatte man die Wahl, ob man die beiden Hefte und die große Posterkarte einzeln oder als Set kaufen wollte, wobei die Karte im Set mehr als nur ein wenig leiden musste, da die Box deutlich zu klein für die Kartenausmaße war. Im letzten Jahr überraschte die kleine Firma die Spielszene dann gleich mehrfach. Getrieben durch den Erfolg der Knights, kündigte Kenzer die Comic-Spinnoffs ?Feary Meat? und ?Hackmaster 4th Edition? an und erhielt überdies den Auftrag, den offiziellen D&D Comic zu produzieren. Kurze Zeit später wurde verkündet, dass Kalamar als eigenständige D&D-Welt erscheinen sollte. Dies stellte insbesondere ein Novum in der bisherigen Produktpolitik von Wizards of the Coast dar, als Fremdanbietern bislang nur gestattet wurde, ihre Produkte unter dem D20-Banner firmieren zu lassen.

Das Werk vermittelt bereits auf den ersten Blick den Eindruck, dass Kenzer & Company gedenken, sich mit der dritten Edition von Kalamar endgültig in der Branche etablieren zu wollen. Mehr als 270 Seiten, als Hardcover gebunden, sprechen eine deutliche Sprache. Der Hauptteil des Buches ist in schwarz-weiß auf hochwertigem Glanzpapier gedruckt. Ausgenommen hiervon sind ein Großteil der Kapiteleinstiegsseiten, die mit farbigen Karten verziert sind, sowie die beiden eingeklebten Posterkarten. Die Posterkarten sind mit etwas Mühe aus dem Buch zu entfernen, wobei Vorsicht geboten ist, um das Buch nicht zu beschädigen.

Es macht Spaß, ein Buch in dieser Qualität in Händen zu halten, vor allem, wenn man dieses Niveau bislang nur von der neuen 3E gewohnt war. Die Seiten sind zweispaltig gelayoutet und bieten ein sehr statisches Bild. Aufgelockert werden die Seiten nur durch die teilweise freigestellten Illustrationen, die geschickt vom Text umflossen werden. Das Buch wurde maßvoll illustriert, wobei die Illustrationen selbst von sehr unterschiedlicher Qualität sind. Einen einheitlichen Stil innerhalb der Illustrationen lässt das Werk leider vermissen. Lineart, Bleistiftzeichnungen und Farbillustrationen finden sehr gemischt Verwendung. Für Leser der alten Kalamar-Werke offenbart sich hier schnell, dass ein Teil der alten Editionen erneute Verwendung gefunden hat. Qualitativ sind die Illustrationen als durchaus gut zu bezeichnen, wobei Abweichungen nach oben als auch nach unten vorhanden sind. Besonders auffällig ist, dass in dem Werk wesentlich mehr Wert auf Architektur und die Völker gelegt wurde, anstatt nur die üblichen Stereotypen der Charakterlandschaft abzubilden. Dies führt zu einer sehr stimmungsvollen Abbildung der Welt und portiert von vornherein einen großen Teil der Atmosphäre. Ein Großteil der Architekturen ist an europäische Baustile angelehnt, was für das amerikanische Kernpublikum sicherlich deutlich mehr Ausdruckspotential besitzt als für architekturverwöhnte europäische Augen.

Die Welt von Tellene ist eine durch Menschen dominierte Welt, gezeichnet von den großen Völkerwanderungen und dem Niedergang der alten Völker. In grauer Vorzeit begann der große Exodus der Volksstämme Svimohzias auf den Hauptkontinent. Als erster Stamm kamen die Dejy. Viele zogen nach Osten und einige nach Norden. Sie lernten die wilden Pferde zu bändigen und leben heute noch in den weiten Ebenen ein freies und ungezwungenes Leben. Später kamen die Fhokki und zogen nach Norden. Sie unterwarfen einige der zentral lebenden Stämme der Dejy, waren aber nicht zahlreich genug, um den Dejy ihr neu gewonnenes Heimatland streitig zu machen. Also zogen sie weiter nach Norden und Osten, wo sie die Ufer des Jorakk Sees besiedelten. Als drittes wagten die Brandobianer den beschwerlichen Weg über die Landbrücke. Sie marschierten nach Westen, bis sie das Meer erreichten und siedelten dort. Mit der letzten Wanderung erreichten gleich zwei Stämme das Festland. Die Reanaarianer zog es nach Osten, bis sie eine große Bucht erreichten, der sie ihren Namen gaben. Die Kalamarianer jedoch siedelten am Fuße der großen Landbrücke und ernährten sich von den Früchten des Marschlandes. Sie lernten schnell, die Sümpfe trocken zu legen, und begannen, ausgedehnten Ackerbau zu betreiben. Als sie nach Norden zogen, trafen sie auf Zwerge. Ein Bündnis mit ihnen brachte ihnen das Geheimnis der Bronze. Mit den neuen Waffen und Rüstungen sowie den gezähmten Pferden der Ebenen, waren sie den anderen Völkern militärisch weit überlegen. König Ali jedoch lehnte den Krieg ab und wurde durch seine beiden Söhne umgebracht, die daraufhin zu dem größten Feldzug der Geschichte aufbrachen. Im Laufe der Jahre unterwarfen sie alle anderen Völker, und nur den Brandobarianern gelang es, die unbesiegbar scheinenden Truppen Kalamars in einer denkwürdigen Schlacht mit Hilfe elfischer Magie zum Stillstand zu zwingen. Im Norden drangen die Truppen Fulakars bis tief in die Lande der Fhokki vor, wo der harte Winter ebenfalls einen Stillstand erzwang. Das Reich war jedoch zu groß geworden, um es aufrecht zu erhalten. Es folgten wechselnde Dynastien, Putschversuche, Attentate auf die königliche Familie und der stetige Niedergang des Reiches. Mehrfach zerfiel das einst mächtige Großreich in kleinere Provinzen, um unter einem starken Herrscher wieder vereint zu werden. Schließlich gelang es einer Familie, den Thron Kalamars zu erobern, indem sie die gesamte königliche Familie niedermachen ließ. Seitdem herrscht die Dynastie der Bakar über die durch Vasallen beherrschten Provinzen des größten Reiches der Welt.

Nach zahllosen unfähigen Königen, die von Wahnsinn, Inzucht und Trunkenheit gezeichnet waren, hat Kabori I. den Thron bestiegen ? und wieder erzittert die Welt unter den Stiefeln der unbesiegbaren Truppen Kalamars.

Die Welt von Tellene ist gezeichnet durch die verschiedenen menschlichen Völker und ihre politische Entwicklung. Im Gegensatz zu vielen anderen Kampagnen steht hier die Politik im Vordergrund. Es wurde versucht, eine möglichst stimmige und realistische Welt zu zeichnen, wobei wesentlich mehr Wert auf Kultur, Geschichte und das Ränkespiel der großen und kleinen Reiche gelegt wird als auf den göttlichen Hintergrund der Welt oder auch auf Magie. Zwar kennt die Welt ein Pantheon aus mehr als dreißig Göttern und auch Magie ist keine Seltenheit, aber alles gliedert sich in die politischen Gebilde ein, die das Antlitz der Welt dominieren. Ebenso verhält es sich mit den alten Völkern, den Elfen, den Zwergen oder auch den Gnomen. Sie alle leben auf Tellene, mussten jedoch dem menschlichen Ansturm weichen. Auch sie sind Teil der Welt, haben einige ihrer Geheimnisse an die Menschen weitergegeben und sich mit den neuen Gegebenheiten arrangiert ? aber in dem Lauf der Welt spielen sie nur noch eine sehr untergeordnete Rolle. In kaum einem Setting war bisher der Einfluss der Menschen so gewaltig, mutete der Hintergrund so historisch an. Durch die großen Kriege der Vergangenheit ist die Welt in stetigem Wandel und bietet somit ein gänzlich anderes Bild als die zahlreichen Kampagnen, die durch Jahrtausende alte Machtstrukturen dominiert werden. Die Geschichte von Tellene wird durch Völker gezeichnet und nicht durch einzelne Personen, die über Jahrtausende die Geschicke der Völker lenken.

Inhaltlich ist das Buch eher ungewöhnlich aufgebaut. Die übliche Entstehungsgeschichte der Welt und der Überblick über die Götterwelt musste den Menschen und ihrer Geschichte weichen. In den ersten Kapiteln gibt es zunächst einen kurzen Abriss über die Volksstämme der Welt und die große Völkerwanderung, bevor ausführlich auf die einzelnen Reiche, ihre Herrscher und ihre Strukturen eingegangen wird. Streng alphabetisch erfährt man zunächst etwas über Brandobia, Kalamar und die jungen Königreiche, die wilden Lande, die Bucht von Reanaaria und über den Ursprung menschlicher Zivilisation ? Svimohzia. Anschließend folgt ein kurzer Überblick über die wichtigsten überregional fungierenden Orden und Organisationen und die Sprachen. Erst im letzten Kapitel des Buches erfährt der Leser etwas über die Entstehung der Welt und das große Pantheon der Götter. Der letzte Teil des Buches ist den Anhängen gewidmet, die vor allem für Spielleiter eine Erleichterung versprechen. Sehr stimmungsvoll ist der Auszug über den Kalender und die Sternbilder Tellenes. Auch hier wird wiederum sehr viel Wert auf eine glaubwürdige und realistische Welt gelegt. Es folgen Übersichten über die wichtigsten Städte (inkl. demographischer Informationen zu Bevölkerung), geltendes Recht, die verschiedenen Armeen, die wichtigsten Länder, Namensgebung und Nichtspielerfiguren. Ein ausführliches Glossar und ein Index ermöglichen ein schnelles Nachschlagen innerhalb des Buches und sind in jeder Hinsicht vorbildlich.

Kingdoms of Kalamar ist in vieler Hinsicht ein eher ungewöhnliches Setting. Die sehr historisch und realistisch angelegte Aufbereitung des Stoffes lässt die Welt lebendig und vor allem nachvollziehbar erscheinen. Es wurde penibel darauf geachtet, die großen Logiklücken anderer Settings, die durch Götter, Magie und übermächtige Charaktere geformt werden, zu vermeiden. Gerade durch die Abwesenheit einer übermächtigen weltumspannenden Macht des Guten oder des Bösen rücken die Menschen sehr stark in den Vordergrund. Das Buch selbst erinnert eher an ein Nachschlagewerk, als an ein typisches Weltenbuch. Auf stimmungsvolle Kurzgeschichten und Texte wurde größtenteils verzichtet, um die Aufmerksamkeit nicht weg von den historischen Aufarbeitungen zu lenken. Die Aufmachung des Buches ist ausgesprochen gut und von hoher Qualität, was sich auch in den Abbildungen größtenteils niederschlägt. Positiv ist, dass der Schwerpunkt auch hier konsequent auf die menschlichen Völker, ihre Kultur und Architektur gelegt wurde und größtenteils auf die klassischen Charakterportraits verzichtet wurde. Die Karten der Welt sind leider nicht so gut gelungen und wirken extrem farbenfroh. Auch erzeugt die Karte keinen guten Wiedererkennungseffekt, was die Formgebung angeht.

Spieler, die sich eine glaubwürdige Welt wünschen und gut auf übermenschliche Leuchtfiguren, die seit Jahrtausenden auf Erden wandeln, verzichten können, werden um Kingdoms of Kalamar nicht herum kommen. Kaum eine Welt lädt nach dem ersten Lesen dermaßen zu politischem Rollenspiel ein wie Tellene.

 

© Daniel Heymann - Dieser Artikel wurde auch im Dragon 15 abgedruckt